Krokodil im Nacken
wandte das Gesicht ab. Hannah aber wusste nun, dass ihr Vater in schlimmen Zeiten zuallererst an sich dachte; ein weiterer Schmerz, mit dem sie fertig werden musste.
Und nun? Wie sollte es weitergehen? Der Gerichtstermin war aufgeschoben, nicht aufgehoben; wollte H.H.M. nicht für längere Zeit im Gefängnis verschwinden, musste er das Land verlassen. Da er keine andere Möglichkeit sah, beschloss er, in seine Geburtsstadt heimzukehren; nur eben nicht nach West-, sondern nach OstBerlin. Die DDR würde ihn schon nicht an den kapitalistischen Westen ausliefern.
Keine Frage, dass Hannah mitging. Wo hätte sie denn sonst bleiben sollen? Es ging aber auch Hilde Krummbiegel mit, bald die dritte Frau Möller, und mit dieser Frau, die so ganz anders war als ihre Mutter, verstand Hannah sich nicht. Mit all der Kraft, die ihr zur Verfügung stand, wenn ihr ein Mensch oder eine Sache zutiefst zuwider war, lehnte sie die Stiefmutter ab. Und ihrem Vater verübelte sie, dass er auf »eine wie die Krummbiegel« hereingefallen war. H.H.M. aber war nicht der Mann, der seiner Tochter zuliebe auf seine Bequemlichkeit verzichtet hätte; die neue Frau Möller konnte die Kriegserklärung ihrer Stieftochter beruhigt annehmen.
»Mutter Hilde«, das begriff auch Lenz bald, war die Berechnung in Person. Sie hatte ihre ältere Tochter Gaby noch rasch Hannahs Bruder Jo untergeschoben, dem H.H.M. vor seiner Flucht das Frankfurter Haus überschrieben hatte, und sah auch sonst zu, wo sie blieb. Schnurrbart-Meisel und Mutter Hilde, dachte Lenz oft, was hätten sie für ein wunderbares Paar abgegeben!
In ihrer Not schrieb Hannah lange Briefe an die ältere Schwester in Frankfurt, in denen sie sich bitter über das Zusammenleben mit der Stiefmutter beklagte; Fränze aber interessierte das Schicksal ihres Vaters mitsamt seiner Hilde nur wenig. »Lass mich bloß mit den Altvorderen in Ruh«, antwortete sie in einem Weihnachtsbrief. »Die haben kein Herz und kein Gewissen; die ganze Generation ist verrottet.«
Kein Wunder, dass auch Hannah dafür war, so schnell wie möglich zu heiraten.
Zur Hochzeit reisten neben Hannahs Bruder Jo mit seiner Gaby und dem kleinen Markus auch Stiefschwester Usch an, von Fränze kam nur eine Karte: »Alles Liebe, alles Gute und lass dich nicht unterkriegen.«
Lenz fand den einen Meter neunzig großen, breitschultrigen, männlich gut aussehenden Jo vom ersten Händeschütteln an sehr sympathisch. Jo, der gern lachte, aber einen unsteten Blick hatte, war jedoch ein tönerner Riese. Die Ärzte hätten ihm ein zu kleines Herz attestiert, er sei zu schnell gewachsen, erzählte er gern. Weshalb er überzeugt davon war, nicht alt zu werden. Hinzu kam, dass er sich von der Stiefschwester, mit der er verkuppelt worden war, nicht geliebt fühlte. Mit Tabletten und Alkohol bekämpfte er seinen Frust.
Waren an den Abenden vor dem großen Tag die ersten Becher genommen, stritten Vater und Sohn miteinander. Es ging immer um dasselbe: Hannahs Vater litt darunter, nicht mehr der große H.H.M. zu sein. In der Firma, für die er nun arbeitete, traute man diesem Westimport nicht. Passierte ja nicht oft, dass einer aus dem Westen in den Osten kam. Sollte man diesem Möller seinen Wunsch nach dem »Lebensabend in der Heimat« etwa abnehmen? In WestBerlin wäre der geborene Schöneberger doch viel näher dran an seiner »Heimat«. Aus dem ehemaligen Baudirektor war ein Sachbearbeiter geworden, aus dem Mann, der mal mehr Geld hatte als ein Warenhaus Hosenknöpfe, einer, der jeden Pfennig umdrehen musste. Das kratzte an H.H.M.s Ego, das musste er kompensieren, also warf er seinem Sohn vor, dass die arme Hannah, nur weil sie bei ihrem Vater geblieben war, den ganzen Monat über keine einzige Banane, er aber, ihr leiblicher Bruder, ein ganzes Haus geschenkt bekommen habe mit allem, was dazugehörte. Weshalb er denn nicht öfter mal ein Paket schickte?
Der hilflose Jo, für den sein Vater noch immer ein großer Mann war, verteidigte sich mit den Kosten, die das Haus verursachte. Er, der kleine Angestellte, verdiene nun mal nicht so viel wie einst der Herr Baudirektor und heimliche Firmeninhaber. Mutter und Tochter Krummbiegel, beide verehelichte Möller, saßen dabei und mischten sich nur halbherzig ein, indem jede den Ihren verteidigte, weil sich das ihrer Meinung nach wohl so gehörte.
Hannah hätte Lenz an diesen Abenden am liebsten nach Hause geschickt.
Der Polterabend wurde lange und ausgiebig gefeiert und Lenz am frühen Morgen
Weitere Kostenlose Bücher