Krokodil im Nacken
die fast zusammenbrachen. Und ich hatte doch Frau und Kinder, war nicht nur für mich allein verantwortlich.«
Ein Geständnis, das Lenz und Hannah tage-, wochen-, ja monatelang verfolgte. Dass in jenen zwölf Hitlerjahren Furchtbares passiert war, hatten sie gewusst, doch hatte das alles mit ihnen selbst bisher nur wenig zu tun gehabt. Jetzt war, was damals geschehen war, plötzlich ganz nah. Wie sollten sie sich verhalten? H.H.M. anklagen, mit ihm brechen? Aber dann musste die gesamte Väter-und-Mütter-Generation angeklagt werden, musste mit fast allen über vierzig gebrochen werden; so viele Widerstandskämpfer hatte es ja nicht gegeben.
Sie versuchten, sich in H.H.M.s Lage zu versetzen: Hätte er sich nicht besser gleich an die Front abkommandieren lassen sollen, anstatt auf diese Weise zum Mittäter zu werden? Durfte einem das eigene Leben wichtiger sein als das so vieler anderer? War es ein Trost, sich zu sagen, tust du es nicht, übernimmt ein anderer deine Aufgabe? Durfte man sich selber opfern, obwohl man damit nichts verhinderte?
Aber hatte H.H.M. denn überhaupt so gedacht? Er war ja aus echter Begeisterung Nazi geworden und noch immer stolz auf seine niedrige Mitgliedsnummer. Und vielleicht hatte er ihnen ja auch längst nicht alles gesagt.
Sie fanden keine gültigen Antworten auf ihre Fragen, wussten nur eines: Selbst wenn auch sie zu jener Zeit Nazis gewesen wären – nach all dem, was sie nun wussten, hätten sie keine mehr sein können. Weshalb nur legte Hannahs Vater einen solchen Wert darauf, nie in seinem Leben einen entscheidenden Fehler gemacht zu haben? Vielleicht, weil er in Wahrheit nichts als Fehler gemacht hatte?
Lenz liebte Hannah und fühlte sich von ihr geliebt und war bereit, ihre ganze Familie in seine Liebe einzubeziehen. Hatte er sich denn nicht immer schon einen Vater oder älteren Freund gewünscht? Zwar konnte er H.H.M. in vielem nicht verstehen, aber wo gab es denn noch einen Schwiegervater, der seinen so viel jüngeren Schwiegersohn als gleichwertigen Gesprächspartner und guten Kumpel behandelte? Den jungen Nazi H.H.M. kannte er nicht; Möller senior mit dem langen, silbergrauen, nach hinten gekämmten Haar und dem markanten, schmalen Gesicht war charmant und witzig, spielte noch immer hin und wieder Geige und akzeptierte ihn, der nichts war und nichts Besonderes konnte, als Schwiegersohn. Ein Grund, danke zu sagen. Doch je mehr Lenz über die Geschichte der Familie Möller erfuhr, desto größer wurde seine Ablehnung.
Aus dem Krieg heimgekehrt, fand H.H.M. seine Familie in einer dörflichen Notunterkunft in der Nähe von Hamburg wieder. Dorthin hatte seine zweite Frau Anneliese ihre drei Kinder gerettet. Anfangs ernährte man sich damit, aus alten Blechen Schöpfkellen, Schüsseln und Töpfe zu hämmern, die die große Tochter Fränze, zu jener Zeit zehn Jahre alt, und der achtjährige Jo bei den Bauern des Dorfes gegen etwas zu essen eintauschten, bald aber zog es H.H.M. nach Frankfurt am Main, dem Hauptsitz seines letzten Arbeitgebers. Wollte er irgendwann in seinen Beruf zurück, musste er sich dort anmelden.
Hannahs schönste Kinderjahre begannen. In der Lersnerstraße, so erzählte sie oft, habe die Familie noch ein ganz normales, friedliches Leben geführt. Da spielte sie Murmeln, lernte sie Rollschuh laufen, kurvte sie mit ihrem Rad durch die Straßen oder half der Mutter in der Küche. Es war für fünf Mägen zu kochen.
Anfangs wurde H.H.M. im Baudezernat der Stadtverwaltung beschäftigt; als man erkannte, dass er etwas konnte, beförderte man ihn zum Baudirektor. Nun hatte er die Bauvorhaben eines bestimmten Stadtbezirks zu planen und zu überwachen und Bauaufträge zu vergeben – und damit begann das Unglück der Familie Möller. Die Baufirmen, die an Aufträge heranwollten, zeigten sich stets sehr großzügig; H.H.M. und nicht wenige seiner Kollegen wussten das zu schätzen. Dankbar steckten sie ein, was über den Tisch geschoben wurde, und das war in Zeiten des Wiederaufbaus nicht gerade wenig. Bald ging es der Familie Möller glänzend, es wurde viel gefeiert, ein Wochenendhäuschen angeschafft, ein PKW gekauft, Reisen nach Luxemburg, Italien, Belgien, Frankreich, die Schweiz und Holland unternommen. Hannah, von ihren Schulfreundinnen um dieses Luxusleben beneidet, kam dieser plötzliche Reichtum oft ein wenig unheimlich vor; H.H.M. und seine Kollegen aber hatten gerade erst einen Weltuntergang überstanden, weshalb sollten sie das nicht feiern? Wusste
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