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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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studierte er sie aus allernächster Nähe, sprach sogar zu ihr, und es war ihm egal, ob er dabei beobachtet wurde oder nicht. Später kroch das Insekt in den länglichen Milchglaskasten an der Decke, in dem die Neonröhre untergebracht war, und fand nicht wieder heraus. Da schob er die Pritsche unter den Glaskasten, stellte den Tisch obendrauf und bestieg den Berg. Ein wackliges Unterfangen, und hätte in diesem Moment ein Wachposten durch den Spion geschaut, hätte er ganz sicher einen Suizidversuch vermutet. Ohne Werkzeug jedoch war der Glaskasten nicht von der Decke zu bekommen und so konnte er die kleine Zellennachbarin nicht retten.
    Jeden Gedanken daran, wie ihre Flucht denn überhaupt herausgekommen war, versuchte er zu unterdrücken. Ließ sich ja doch nichts rückwärts drehen … Dennoch füllte das Gegrübel darüber einen wesentlichen Teil seiner Zeit aus: Konnte sie jemand verraten haben? Aber nein, Hannah und er hatten niemandem von ihrem Vorhaben erzählt und Franziska hatte doch ganz sicher ebenfalls den Mund gehalten. Und dass die bulgarischen Grenzer rein zufällig auf die Pässe gestoßen waren, erschien ihm nun eher unwahrscheinlich. Fränze war weder dumm noch leichtsinnig, sie würde sie schon gut genug versteckt haben in ihrem voll bepackten Wagen.
    Waren Hannah und er vielleicht abgehört worden? Mit einer Wanze? Zwar hatten sie am Telefon nicht über ihre Pläne geredet, doch im Wohnzimmer, abends, wenn die Kinder schliefen oder Fränze zu Besuch war … Einmal, als im Wohnzimmer der Schlüssel verschwunden war, daran würde ganz bestimmt auch Hannah jetzt oft denken, waren sie sogar misstrauisch geworden, hatten dann aber alle Bedenken beiseite geschoben: Nur keine Spökenkiekerei!
    Oder fehlte ihm nur Phantasie? Zwar hatten Hannah und er mit niemandem über ihre Pläne und Absichten gesprochen, doch hatten sie nicht öfter mal das Maul aufgerissen und gesagt, wie und was sie dachten? Wenn das nun weitergemeldet worden war? Nicht jeder gute Kollege musste ein wahrhaft guter Kollege, nicht jeder Freund ein Freund sein. Worte wie »Der redet immer negativ« oder »Die hat zu viele Westkontakte« reichten ja schon, um sie als unzuverlässig abzustempeln und eine Observierung anzuordnen. Und waren sie beobachtet worden, wie hätten die Spitzel nicht bemerken sollen, dass Hannah und Manfred Lenz sich in den letzten Monaten sehr verändert hatten, stiller, nachdenklicher, vielleicht sogar »verdächtig« geworden waren?
    Um diese Gedanken, die ihn ja nicht weiterbrachten, loszuwerden, sang Lenz manchmal leise vor sich hin. Es tat gut, seine eigene Stimme zu hören, und es lenkte ab, da er sich an viele Texte erst wieder erinnern musste.
    Andere Stimmen, abgesehen von den Befehlstönen des Wachpersonals, bekam er nur selten zu hören. Einmal, es war mitten in der Nacht, hörte er einen noch sehr jungen, weinerlich klingenden Häftling seinen Vernehmer verlangen. »Er hat mir doch versprochen, dass er mich diese Woche holt«, rief er, dass es durch alle Türen drang. Ein Wachposten antwortete: »Ja, ja! Ich sag Bescheid.« Er musste es aber doch nicht getan haben, denn der Häftling klopfte und rief, bis Schritte durch den Flur hallten, Riegel klirrten und eine Tür aufgeschlossen wurde. Bald darauf waren erneut Schritte zu hören, und der junge Mann heulte und protestierte noch jämmerlicher, bis seine Stimme leiser und leiser wurde und irgendwann nicht mehr zu hören war. Ein andermal, gegen Morgen, musste einer eingeliefert worden sein, der von der ersten Sekunde an Krach schlug. Erst trommelte er mit den Fäusten gegen die Tür, dann musste er mit dem Hocker oder Tisch dagegen geschlagen haben. Wieder kamen mehrere Stiefel den Flur entlanggehastet, wurde eine Tür aufgeschlossen und der wütend Schreiende irgendwohin abtransportiert.
    Wurde, wer so aufbegehrte, in eine Arrest- oder Beruhigungszelle gesperrt? In seiner Phantasie verlegte Lenz diese Zelle in den Keller; Verwahrräume mit Gummiwänden!
    Jeden Freitagabend huschte eine Art Wischkommando durch den Flur. Dann stand Lenz die ganze Zeit über an der Tür und lauschte. Es mussten alles weibliche Häftlinge sein, die da einmal die Woche wie die Heinzelmännchen in den Flur gelaufen kamen, die Scheuerlappen schwangen und genauso rasch wieder verschwanden. Als er sie das erste Mal hörte, wisperten zwei von ihnen vor seiner Zellentür miteinander, und er versuchte, etwas von ihrem Gespräch aufzufangen. Wenn nun Hannah, wie er vermutete,

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