Krokodil im Nacken
auch längst verhaftet war, vielleicht war sie unter diesen Frauen?
Er bemühte sich, ihre Stimme herauszuhören, doch nein, es waren fremde Frauen, die sich da schnell etwas zuflüsterten, bevor sie vor der Nachbarzelle weiterwischten.
In der Woche darauf, als erneut eine der Frauen vor seiner Tür angelangt war, wagte er es, ihr leise »Guten Abend!« zu wünschen. Da hielt die Frau für eine Sekunde im Wischen inne. Doch sie antwortete nicht, fuhrwerkte nur weiter vor seiner Tür herum; wie ihm schien aber nun viel langsamer, sanfter, tröstender. Sicher stand ein Wachposten in der Nähe, deshalb konnte sie nicht reden. Er aber, Lenz, tat ihr Leid, deshalb diese plötzliche Ruhe in ihren Bewegungen …
In der Sofioter Karnickelbucht hatte Lenz jeden Abend Stimmen gehört. Immer wenn draußen die Dämmerung einsetzte, waren sie durch die Lüftungsklappe gedrungen, diese lauten, fröhlichen Kinderstimmen. Die Jungen und Mädchen aus der Umgebung mussten die Straße vor dem Untersuchungsgefängnis zu ihrem Spielplatz erkoren haben. Oft johlten sie laut, lachten oder schimpften miteinander. Als er diese Stimmen das erste Mal hörte, hatte er sie kaum aushalten können: Silly! Micha! Alles, nur jetzt keine Kinderstimmen! Er war aufgesprungen und die anderthalb Schritte zwischen Wasserkaraffe und Pinkeleimer hin und her gewandert. Ein großer Schritt, auf dem Absatz kehrtgemacht, wieder ein Schritt, auf dem Absatz kehrtgemacht …
Später jedoch, vor allem nachdem Stepan in eine andere, sicher angenehmere Zelle verlegt worden und er mit Sefik, dem jungen Türken, mit dem er kaum ein Wort wechseln konnte, allein geblieben war, wartete er jedes Mal auf die Kinderstimmen – weil sie ihn an seine Kindheit erinnerten.
Auf der anderen Seite der Prenzlauer Allee, gleich gegenüber Mutters Kneipe, hatte es einen Komplex aus gelben Backsteinbauten gegeben. In der Ruine hinter diesen Häusern, die den Krieg heil überstanden hatten, hatten sie als Kinder Höhlen gebaut und Mutproben abgelegt, und er hatte lange nicht gewusst, dass hinter den vergitterten Kellerfenstern der gelben Häuser politische Gefangene saßen. Anfangs war in diesem Komplex die russische Stadtkommandantur untergebracht, später die Volkspolizei. Beide Hausherren nutzten die Zellen zum selben Zweck. Der kleine Manni aber war fast jeden Tag ahnungslos daran vorübergegangen, bis die großen Jungen ihn eines warmen Sommermorgens über die Gitter an den Fenstern aufklärten. Natürlich hatte er ihnen zuerst nicht glauben wollen: Wie konnte das denn sein, er lag in seinem Bett oder spielte auf der Straße und nur wenige Meter von ihm entfernt hockten magere, ganz bestimmt stoppelbärtige Männer in ihren Zellen, bekamen nur Wasser und Brot und sehnten sich in die Freiheit zurück? Jetzt war er selbst so ein stoppelbärtiger Gefangener, bekam nur Suppe und Brot und hörte spielende Kinder auf der Straße, wie die Männer und Frauen damals ihre Rufe, ihr Lachen, ihr Gejohle gehört haben mussten. Wiederholte sich denn alles, blieb niemand verschont?
Er bedauerte sehr, dass Stepan nicht mehr da war. Mit Stepan hätte er, wenn auch nur radebrechend, über die Kinder da draußen reden können; Sefik konnte er nur Zeichen geben: »Da! Die Kinder sind wieder da!« Und der junge Türke, der längst mitbekommen hatte, wie sehr ihn die Kinderstimmen bewegten, nickte dann jedes Mal und verhielt sich noch stiller als sonst.
Auf seine Weise war auch Sefik ein guter Zellenkamerad. Verständlich, dass einer in seiner Lage die meiste Zeit über in sich gekehrt blieb. Eines Nachts jedoch kam es zu einer makabren Szene. Da riss der junge Türke, der lieber ein Jugoslawe sein wollte, plötzlich die Augen auf, bis mehr Weiß als Braun darin zu sehen war, fuchtelte mit der Hand vor seinem Gesicht herum und stieß mehrere unartikulierte Schreie aus.
»Was ist denn los?«, fragte Lenz besorgt. »Tut dir was weh? Hast du geträumt?«
Sefik jedoch antwortete nicht, fuhr sich nur weiter mit der Hand übers Gesicht, bis Lenz endlich begriff: Der junge Türke wollte andeuten, dass er nichts mehr sah – also urplötzlich erblindet war; eine Idee, die er in dieser Nacht ausgebrütet haben musste.
»Das klappt nicht.« Beinahe hätte er laut aufgelacht. »Das nehmen sie dir nicht ab.«
Sefik aber spielte weiter den Erblindeten, wies zur Tür und rief immer wieder: »Chef! Chef! Chef!« Lenz blieb gar nichts anderes übrig, als zu klopfen. Doch es war Nacht, wenn sie nicht gerade
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