Krokodil im Nacken
ihre Runden drehten, dösten die Schließer in irgendwelchen Wachräumen. So musste er lange klopfen, bevor sich die ersten zornigen Schritte näherten. Der Schlüssel rasselte im Schloss, die Tür flog auf und zwei Lenz noch nicht bekannte uniformierte Dickwänste starrten mit vom Schlaf verquollenen Augen zu ihnen hinein. Er wies nur still auf Sefik, der seine Rolle nun noch intensiver spielte. Wie von fürchterlichen Schmerzen gequält wälzte sich der junge Türke über die Matratzen, schrie und stöhnte und fuhr sich immer wieder mit beiden Händen in die Augen, als wollte er sich jeden Augapfel einzeln herausreißen.
Hoffte er, ins Krankenhaus gebracht zu werden, um von dort fliehen zu können? Glaubte er, ein Blinder würde nicht in die Türkei ausgeliefert oder dort nicht ganz so streng bestraft? Der junge Bursche, der erzogen worden war, für seine Ehre zum Messer zu greifen, dauerte Lenz, so lächerlich diese Theatervorstellung auch war. Die beiden fetten Schließer jedoch, nun endgültig wach, brachen in schallendes Gelächter aus und schlugen sich vor Vergnügen gegenseitig auf die Schultern.
Aber auch das beeindruckte Sefik nicht. An der Wand entlang tastete er sich auf die Tür zu und redete auf Türkisch auf die beiden Männer ein. Offensichtlich flehte er sie an, ihm seine Erblindung zu glauben. Er jammerte und klagte, bis einer der beiden Fettwänste die Geduld verlor, ärgerlich vortrat und ihn auf die Matratze zurückstieß. Gleich darauf flog die Tür zu und die beiden Gefangenen waren wieder allein.
Er weinte und keuchte noch lange in dieser Nacht, der unglückliche Sefik. Glaubte wohl, seine Rolle noch ein bisschen weiterspielen zu müssen. Vielleicht genierte ihn dieser hilflose Griff nach dem Strohhalm aber auch. Lenz sagte nichts und fragte nichts. Erst tags darauf, gegen Mittag, als Sefik seinen hoffnungslosen Versuch, mit dieser Schauspielerei irgendetwas für sich zu bewirken, endlich aufgegeben hatte, sprach er ihn vorsichtig an: »Ich versteh deine Angst. Musst dich nicht schämen.«
Der junge Türke antwortete nichts, starrte nur stumm in sich hinein.
Noch zweimal hatte der Kater mit der Zigarettenspitze Lenz vorführen lassen, Vernehmungen aber fanden nicht mehr statt in dem kleinen, mit so viel Nippes angefüllten Raum. Sie plauderten nur noch miteinander, der bulgarische Untersuchungsrichter und sein deutscher Untersuchungsgefangener.
Einen Tag nach dem letzten Gespräch war Lenz dann auf Transport gegangen. Als einer von sechzig, siebzig deutschen Gefangenen durfte er in einen der beiden bereitstehenden Busse steigen, die sie zum Flugplatz brachten; ein Rücktransport, den er, hätte es sich um eine Filmszene gehandelt, als unglaubwürdig empfunden hätte.
Auf dem Flugplatz stand eine vom Ministerium für Staatssicherheit gecharterte Interflug -Maschine; zwischen jeweils zwei glatzköpfige Staatsverräter, die in die Heimat zurückexpediert werden mussten, zwängte sich ein extra aus Berlin eingeflogener Stasi-Mann in betont ferienhafter Zivilkleidung in die Dreierreihe. Lenz’ Nachbar, ein etwa gleichaltriges, hellblondes Blassgesicht in blauer Hose und grüner Blousonjacke, wusste nicht, wo er hinschauen sollte; Lenz, der einzige Häftling, dem keine Glatze geschoren worden war, irritierte ihn. Hatte die Tatsache, dass da einer seine Haarpracht behalten durfte, irgendwas zu bedeuten?
Eine Frage, die auch Lenz bewegte. Neunzehn Tage hatte er in bulgarischen Haftanstalten zugebracht; genügend Zeit, um ein so auffälliges Versehen zu korrigieren, wenn es sich um eines gehandelt hätte. Er war nicht unglücklich darüber, dieser rigorosen hygienischen Maßnahme, die aus jedem harmlosen Burschen einen gefährlich oder irre dreinblickenden Gewalttäter machte, entkommen zu sein, die Gründe dafür jedoch hätten ihn interessiert. Hatte er diese Verschonung einzig und allein der Sympathie seines Vernehmers zu verdanken?
Aufgabe der Stasi-Männer war es, jeden Kontakt zwischen den heimzutransportierenden Landeskindern zu verhindern. Ein striktes Sprech- und Berührungsverbot war verhängt worden. Nur Blicke konnten die größtenteils noch sehr jungen Männer miteinander wechseln, sich zugrinsen oder durch Mienenspiel zu verstehen geben, wie froh sie waren, den Sofioter Karnickelbuchten entkommen zu sein. Es ging nach Hause, wo sie hoffentlich angenehmere und geräumigere Gefängniszellen erwarteten.
Frauen waren keine an Bord. Eine Tatsache, über die Lenz sich Gedanken
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