Krokodil im Nacken
kurze blonde Haare, Quadratschädel, himmelblaue Augen – typisch deutsch und dennoch exotisch: Ein Bayer in der Nationalen Volksarmee! Ein Bayer in einer Ausbildungskompanie hoch im Norden seines zweigeteilten Vaterlands! Was hatte den wohl in den Osten getrieben?
Nach dem Frühstück Exerzieren auf dem Kasernenhof. Grundstellung einnehmen, ausrichten, Bauch rein, Brust raus, Kinn hoch. »Die Augen – rechts! Die Augen – links! Wissens net, wo rechts und links ist? Solchene Hurenfürz wie eich konn der liebe Gott ja gar net erfundn habn.« Danach stundenlanges Marschieren, immer im Hof herum. »Imm Gleichschritt – marsch! Links, links, links zwoa, dre-i-i, vier, links, links, links zwoa, dre-i-i, vier, links, links, links zwoa, drei-i-i, vier … Sie da, Sie Komiker, nehmens Gleichschritt auf, trippelns ja wie a Maderl, dem die Blasn druckt … Links, links, links, zwoa, drei-i-i, vier, links, links, links, zwoa, drei-i-i, vier … Stillgstandn! Rechts – umm! Links – umm! Die Augen – rechts! Die Augen – links! Augen – geradeaus! Im Gleichschritt – marsch! Links schwenkt – marsch! Rechts schwenkt – marsch! Ohne Tritt – marsch! Im Laufschritt – marsch …«
Es gab Rekruten, die über Holzingers Sprüche lachten; Lenz mochte es nicht, dieses Mitlachen über jeden Mist in der Hoffnung, auf diese Weise beim Vorgesetzten Sympathien zu ernten.
»Die Haxn höher! Net latschn – marschiern! Was seids nur für a stinkata Schwoaßfuaßtruppn! Na, wartet, eich scheich i, bis ihr Speiseöl schifft! Sakra, no amol!«
Wieder wurde gelacht und Holzinger gefiel das. Er zelebrierte sein Exotentum geradezu und versprach ihnen großzügig, sie in den drei Wochen, in denen er sie unter seinen Fittichen hatte, in alle Einzelteile zu zerlegen und neu wieder zusammenzusetzen, damit doch noch brauchbare Soldaten aus ihnen wurden.
Drei Wochen, in denen ein Tag dem anderen ähnelte: Frühsport. Frühstück. Exerzieren. Ausbildung an der Waffe. Mittagessen. Geländeausbildung. Abendessen. Putz- und Flickstunde. Revierdienste. Stubendurchgang. Dazu Offiziere und Unteroffiziere und deren Kernsätze und Ermahnungen: »Nur wer gehorchen gelernt hat, wird eines Tages in der Lage sein zu kommandieren.« – »Ohne Disziplin ist eine Armee nur ein Wackelpudding.« – »Pfeifen Sie hier keine westliche Schlagermusik, das ist ideologische Diversion.«
Ging es ins Gelände außerhalb der Kaserne, marschierten sie über fest getretenen Schnee. Auf ihren Rücken das Marschgepäck und die Atomschutzplane, in ihren Händen die Kalaschnikow mit dem aufgesteckten Seitengewehr, über der Dienstuniform der Kampfanzug. Der Winter war früh gekommen in diesem Jahr, jeden Tag schneite es dicke Flocken. Holzinger bellte: »Panzer von vorn! Panzer von rechts! Panzer von links! Tiefflieger von vorn! Tiefflieger von rechts! Tiefflieger von links!« Bei jedem dieser Befehle mussten sie sich, wo sie gerade standen, in den Schnee werfen und – mal in Richtung auf den Wald zu, mal auf die Felder hinausblickend – den angreifenden Feind ins Visier nehmen. Nur gut, dass es keine Pfützen gab, keinen Matsch und keinen Dreck; so flogen sie nur in den frisch gefallenen, sauberen, weichen Schnee und dem kleinen Passlack und einigen anderen machte diese Wildwest-Spielerei sogar Spaß. »Peng, peng!«, machten sie und kicherten leise.
Spielte Holzinger allerdings »Atomschlag« mit ihnen, hörte auch für den Letzten der Spaß auf. »Atomschlag« bedeutete, dass sie sich in Windeseile in die Atomschutzkleidung werfen mussten: unförmiges graues Plastikzeug, von den Soldaten nach einem Insektenschutzmittel nur als Mux -Klamotten bezeichnet. Zu dieser Schutzbekleidung gehörten ein Umhang, der bis über den Kopf reichte und zwischen den Beinen zugeknöpft werden musste, zwei riesige, hüfthohe Schutzstrümpfe, deren Träger über die Schultern gestreift werden mussten, und zwei ellenbogenlange Schutzhandschuhe, die, hatte man sie erst mal übergestreift, jeden Handgriff unmöglich machten. Hinzu kamen die Truppenschutzmaske, die nicht nur gegen Gas schützen sollte, und das Entgiftungspäckchen für den Notfall. Alle Schutzkleider mussten in einer bestimmten Reihenfolge angelegt werden; erst die Strümpfe über die Stiefel und die Träger über die Schultern, dann die Gasmaske vors Gesicht, Stahlhelm auf, Schutzumhang drüber und die Handschuhe an.
Mit der Gasmaske, ein hellgraues Gummitier mit zwei großen, runden Glasfenstern, begann der
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