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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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gegenüber, nur hundertfünfzig Meter entfernt, der Erste Ehestandsschoppen gelegen hatte. All die Szenen sah er wieder vor sich, die so oft durch die Tagträume seiner Kindheit gegeistert waren: der Vater, wie er eines Morgens losgegangen war, um Soldat zu werden; die Mutter, wie sie in ihrem weißen Kittel in der Kneipentür stand, um ihm nachzuwinken. Wie dann der Vater jedes Jahr auf Urlaub kam und wieder fortmusste. Bis er eines Tages nicht mehr heimkehrte. Wie die Mutter, Tante Lucie, Wolfgang und Robert mit dem kleinen Manni Nacht für Nacht und Tag für Tag in den Luftschutzkeller eben dieses Bezirksamtes flüchteten, auf dessen Hof er jetzt stand. Der Vater, so hatte die Mutter oft erzählt, habe sich keinen Sohn, sondern eine Tochter gewünscht – vielleicht, weil er den Gedanken nicht ertrug, dass auch sein Sohn eines Tages Soldat werden musste?
    Wo jetzt der Rasen angelegt war, hatten sie als Kinder in den Ruinen gespielt, in dem gelben Backsteinstandesamt gleich nebenan hatte die Mutter den Stiefvater geheiratet, in dem Gebäude hinter ihm hatten Robert und Reni seine Heimeinweisung beantragt. Alles Folgen der Soldatenspielerei.
    Was hatten denn er, Lenz, sein Vater und sein Großvater mit den militärischen Interessen des Staates zu tun, in dem sie zufällig lebten? Was waren den Kontoristen Fritz Ullrich, der so gern Gedichte und schöne Briefe schrieb, des Kaisers Großmachtpläne und die Sehnsüchte der deutschen Industrie angegangen? Was interessierte den Maurer Herbert Lenz, der im Leben immer nur Pech hatte, Hitlers Welteroberungspolitik, was ihn – Hannahs Manne und Silkes Papi – die Verteidigung eines Sozialismus, der nicht der seine war? Noch war der Krieg kalt, aber konnte denn nicht schon morgen ein Dritter Weltkrieg beginnen, durch ein Missverständnis in Gang gesetzt oder aus Dummheit vom Zaun gebrochen? Er hatte keine Lust, für fremde Interessen in fremder Erde zur ewigen Ruhe gebettet zu werden; es widerte ihn an, wenn er sah, wie nach den Kriegen die Generäle sich die Hände reichten und Champagner miteinander schlürften und die Regierenden mal wieder Kränze am Grabmal des unbekannten Soldaten niederlegten. Er wollte kein unbekannter Soldat werden; er wollte endlich mal richtig zu leben beginnen.
    Gedanken, wie sie an jenem Morgen nicht nur Lenz bewegten. Überall im Land wurden an diesem 3. November 1965 unwillige junge Männer zum Wehrdienst eingezogen. Die wenigen Willigen unter ihnen hatten sich längst für drei Jahre verpflichtet, würden eines Tages Unteroffiziere sein und hielten schon jetzt Abstand zu ihren zukünftigen Untergebenen. Die Unwilligen unterteilten sich in solche, die lauthals ihre Wut auf jene bekundeten, die zu Hause bleiben durften – und ihnen vielleicht schon bald die Freundinnen oder Frauen ausspannten –, und solche wie Lenz, die eher still unter ihrer Ohnmacht litten.
    Ein Lauter: »Was hier passiert, ist eine Sauerei. Nach dem Potsdamer Abkommen ist ganz Berlin eine entmilitarisierte Stadt. Die WestBerliner müssen auch nicht zum Bund. Wir hätten einfach in unseren Betten bleiben sollen.«
    Ein anderer Lauter: »Soll’n se mich nur einziehen, an mir hat der Barras keene Freude. Ick werd den Jenossen dermaßen uff’n Wecker fallen, dass se mich schon bald wieder nach Hause schicken. Die wissen ja noch nich, dass ick Bettnässer bin. Ick verpiss denen alle Matratzen.«
    Ein Halblauter: »Der Ulbricht hat mal vor Hamburger Kommunisten gesprochen, die nicht zur Bundeswehr wollten. Als se fragten, was se mit ihrem Gestellungsbefehl tun sollten, sagte er: Zerreißen. Und er versprach ihnen, sie in der DDR aufzunehmen, falls se deshalb Schwierigkeiten bekommen sollten. Warum darf denn der Erhard nicht mal zu uns sprechen?«
    Ein unterdrücktes Gelächter setzte ein, das bald darauf erstarb: Offiziere waren in den Hof getreten, die Ausweise wurden eingesammelt. Lenz musste an den Hauptmann von Köpenick denken: Ohne Papiere biste kein Mensch! Also waren sie jetzt endgültig entmündigt, nur noch Nummer, Werkzeug, Opferlamm?
    Anhand der Ausweise stellten die Offiziere fest, wer nicht gekommen war: Zwei Namen auf ihrer Liste konnten nicht abgehakt werden; zwei junge Männer mussten gesucht und gewaltsam zur Fahne oder vors Gericht gezerrt werden. Schadenfreudiges Gekicher machte die Runde, dann ertönte es laut: »In Zweierreihen antreten. Ohne Tritt – marsch!«
    In der Diesterwegstraße, die an die Seitenfront des Bezirksamts grenzte, dort, wo hinter

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