Krokodil im Nacken
hier Wache ging und Sehnsucht hatte, und fühlte sich klein. Von da oben aus gesehen musste alles, was sie hier unten veranstalteten, lächerlich wirken.
In den Bereitschaftszeiten schrieb er Hannah einen langen Brief. Vor sich den schmalen Schreibtisch mit Wachbuch und Telefon und das Schalterfensterchen, hinter dem das grelle Licht einer Peitschenlampe das verschneite Tor anstrahlte, über sich die armselig funzelnde 25-Watt-Glühbirne, in seinem Rücken der emsig befeuerte Kanonenofen, Gewehrständer und die Pritsche mit dem dritten Wachposten. Er schrieb Hannah, dass er Silke und ihr in dieser Nikolausnacht leider nur seine Liebe in die Schuhe stecken könne, schilderte seine Situation in dieser Nacht und malte sich und ihr aus, wie er sie in diesem Augenblick vor sich sah: in ihrem Bett, den Mund beim Schlafen wie immer leicht geöffnet, Silkes Bettchen so nah, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um sie zu berühren. Er quälte sich damit selbst, doch wärmte es auch, dieses Bild, das er da so deutlich vor sich sah.
Auf dem dritten, nun schon tief nächtlichen Wachgang passierte es dann: Da war plötzlich ein Schatten im Schnee, der sich außerhalb des Postens am Zaun entlangbewegte. Lenz nahm die Kalaschnikow in Anschlag und stieß ein heiseres »Halt! Wer da?« aus. So hatte er sich zu verhalten, wenn sich eine unbekannte Person dem Gelände näherte. Als Nächstes war die Parole abzufragen, und auch in dieser Hinsicht galt es, korrekt zu sein – nicht weil er ernsthaft an einen Spion, Saboteur oder anderen imperialistischen Aggressor geglaubt hätte, sondern weil ihm berichtet worden war, dass es da ein paar idiotische Offiziere geben sollte, die neu eingezogene Soldaten gern mal ein bisschen auf die Probe stellten. Verhielt einer sich nicht richtig, wurde eine Ausgangs- oder Urlaubssperre verhängt.
Der Schatten bewegte sich weiter am Zaun entlang, und dann grunzte er plötzlich laut und schubberte sich, ohne auf die Bedrohung durch die Kalaschnikow zu achten, am Stacheldraht den Rücken. Lenz schaltete seine Taschenlampe ein – und da standen sie einander gegenüber, das wuchtige, borstige Schwein, das im Wald zu Hause war, und er, der Eindringling, der den Waldesfrieden störte, obwohl er hier gar nichts zu suchen hatte.
Blickten die kleinen Augen böse oder neugierig? Senkte der Keiler sein Haupt mit den beiden Hauern, um im Schnee zu schnüffeln oder sich ungeachtet des Stacheldrahtes, der sie trennte, auf einen Angriff vorzubereiten? Lenz wackelte ein wenig mit der Taschenlampe, das Borstentier grunzte noch mal laut, dann drehte es ihm die Hinterschinken zu und trabte gemächlich davon.
Ein Erlebnis, das ein PS wert war. So fügte Lenz während seiner nächsten Bereitschaft dem Brief an Hannah noch einige lustige Zeilen hinzu und drückte ihn am Morgen dem Postholer wie eine Kostbarkeit in die Hand. Der Kamerad, ebenfalls dick vermummt und noch nicht ganz wach, grinste verständnisvoll: »Ja, ja! Auf Wache schreibt man immer die schönsten Briefe.«
Vierzehn Tage später war auch die Spezialausbildung beendet und die Flieger Lenz und Waldmann und zwei weitere Planchettis wurden zum Bahnhof gebracht. Der Posten Pragsdorf bei Neubrandenburg war ihr Einsatzgebiet, dort hatten sie sich mitsamt ihren Militärsäcken hinzubegeben, um die restlichen sechzehn Monate ihres Dienstes abzuleisten.
»Wir werden auch das überleben«, beruhigte Lenz den schon wieder niedergeschlagenen Gio.
In Neubrandenburg wurden sie von einem LKW abgeholt und in Pragsdorf mit viel Neugier empfangen. Lenz war die Kunde vorausgeeilt, die Spezialausbildung als Bester bestanden zu haben; Ko-Chef, Zug- und Gruppenführer erwarteten einen Meister des Planchetts. Waldmann hatte die Abschlussprüfung nicht bestanden; die Blicke, die ihn musterten, sprachen Bände.
Eine Schlafbaracke mit Ofenheizung in jedem Raum, ein festes Haus mit Führungsstelle, Offiziers- und Unteroffiziersunterkünften, Speisesaal und Küche, dazu die verschiedenen im Gelände verteilten, beweglichen sowjetischen Radarstationen mit ihren riesigen oder nicht ganz so imposanten Auffangschirmen – Pragsdorf unterschied sich nur wenig von Banzin. Waldmann und Lenz bezogen mal wieder ein gemeinsames Doppelstockbett; der leichtere Gio zog nach oben.
Einen Tag vor Heiligabend, die Neuen aller Fachrichtungen hatten sich noch nicht an ihre Betten gewöhnt, ging’s dann in den Weihnachtsurlaub. Wie die Fahrt sich hinzog, wie betrunken einige der
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