Krokodil im Nacken
»Fronturlauber« zu Hause eintrudeln würden!
Für die zwanzig Minuten Fußweg vom S-Bahnhof Greifswalder Straße bis zur Woldenberger Straße brauchte Lenz diesmal nur die Hälfte der Zeit; auf der Treppe kam Silke ihm schon entgegen. Groß war sie geworden in diesen sieben Wochen, die Zweijährige, vergessen aber hatte sie ihn nicht.
Dann Hannah; Glück, das wehtat!
6. Trockenübungen
P ragsdorf war die Rauchfahne des Zuges am Horizont und das schrille Pfeifen, das die Lokomotiven hin und wieder ausstießen, war knöcheltiefer Schlamm im Spätherbst und Frühjahr, waren schneebedeckte oder kahle graubraune Felder in zwei trostlosen Wintern und saftig grüne Wiesen unterm hitzestrahlenden Sommerhimmel. Pragsdorf war das Gefühl von Verbannung und Verlorenheit, Wut und Wehmut und Langeweile.
Nein, aus dem Flieger Lenz wurde bis zum Ende seiner Dienstzeit kein begeisterter Soldat. Doch wurde er ein guter Planchetti. Jedes halbe Jahr erhielt er das Bestenabzeichen, er erwarb die höchste Qualifikationsspange, erhielt Sonderurlaube, und einmal schrieb der Ko-Chef einen Brief an seinen Betrieb, in dem er für die Zur-Verfügung-Stellung eines solchen Kaders dankte. Eine nicht unübliche Form der Belobigung, über die gern gewitzelt wurde, für Lenz jedoch sollte sie angenehme Folgen haben.
Was Lenz hasste, Geländeübungen, Märsche, den Umgang mit der Waffe, wurde ihm kaum noch abverlangt. Die Männer auf den Außenposten waren dazu da, die Luftsicherheit zu gewährleisten; Soldat im Dreck durften andere spielen. Und lohnte es sich denn, gegen dumme Befehle und widersinnige Anordnungen aufzubegehren und damit auf die nächste Urlaubsfahrt zu Hannah, Silke und später auch Micha zu verzichten? Da war es doch besser, sich über diese ganze militärische Aufplusterei lustig zu machen.
Diese fest zementierte Hierarchie: Dienstgrade über alles! Sogar unter den Soldaten gab es eine Rangordnung. Ganz oben die EKs – Entlassungskandidaten, zumeist Gefreite –, die auf alle anderen herabsahen, ganz unten die Rotärsche aus dem ersten und dazwischen die Vize-EKs aus dem mittleren Diensthalbjahr, die sich zum Zeichen ihrer Würde einen Knick in die Schulterstücke machten. Jeder hoffte aufs Aufrücken; keiner, der auf äußerliche Würden verzichtete.
Und wie wichtig der Tagesablauf genommen wurde! Als hinge der Weltfrieden ganz allein vom strengen Befolgen des militärischen Reglements in der Pragsdorfer Kompanie ab; mit Ordnung und Sauberkeit den Klassenfeind besiegen!
Weniger zum Lachen war der wöchentliche Politunterricht. Kaum älter als seine Schüler war er, der Politstellvertreter Eberhard Wittkowski, der ihnen die Liebe zur Heimat und den Hass auf die Imperialisten ins Herz pflanzen sollte. Groß gewachsen, rötlich-rauhäutiges Gesicht unter dicht stehendem, igelkurzem Blondhaar, dazu ein unsicherer, vorsichtig prüfender Blick aus wasserblauen Kinderaugen, so stand er vor ihnen in seiner akkurat sitzenden Offiziersuniform. Seine Merksätze: »Wer nicht weiß, wofür und gegen wen er kämpft, kämpft schlecht.« – »Wer an seinem Arbeitsplatz die sozialistische Gesellschaft mitentwickelt hat, muss auch bereit sein, sie mit seinem Leben zu schützen.« – »Wer nur an sich selbst denkt anstatt an die Zukunft der Menschheit, schädigt letztendlich auch sich selbst.«
Wittkowskis Reden glichen Beschwörungen: »Wer ist denn der Feind, der uns bedroht? Es sind die gleichen Kräfte, die Deutschland in den Ersten und in den Zweiten Weltkrieg getrieben haben. Merken Sie sich: Wir kämpfen nicht gegen Menschen, wir kämpfen allein gegen das überlebte System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen und gegen die menschenverachtenden Feinde unseres Staates, die sich an den von uns geschaffenen Reichtümern gesundstoßen wollen.«
Und wollte er großzügig sein, sagte er: »Gewiss, der Soldat, der uns gegenübersteht, ist an sich nicht bösartig. Aber wie wird er erzogen in Schule und Elternhaus? Was für kriegsverherrlichende Filme bekommt er zu sehen, welche Schundhefte zu lesen? Fakt ist, wer antikommunistisch aufgehetzt und im revanchistischen Geist erzogen wurde, würde im Interesse seiner Herren bedenkenlos unsere Städte bombardieren und auf unsere Genossen schießen.«
Es gab in der Armee eine Bezeichnung für lügen, jemanden voll quatschen, sich aus einer Sache herausreden: dem anderen »die Taschen füllen«. Wittkowski füllte seinen Zuhörern die Taschen so großzügig, dass sie den Inhalt
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