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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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leuchtenden Plexiglaswand. Durchquerten Flugzeuge den Luftraum der DDR oder tummelten sich zu Übungszwecken Düsenjäger am Himmel, mussten ihre Koordinaten eingetragen werden. In Spiegelschrift. Stundenlang hockten sie in der abgedunkelten Führungsstelle der Kompanie, Kopfhörer über den Ohren, und zeichneten mit Fettstiften Ziffern, Kreise und Striche in das Koordinatensystem. Besonderes Augenmerk lag auf den Trassen Hamburg – Berlin, Hannover – Berlin, Frankfurt am Main – Berlin. Dass nur ja keines der amerikanischen, britischen oder französischen Passagierflugzeuge, das die Halbstadt WestBerlin mit der Bundesrepublik verband, von der vorgegebenen Route abwich!
    Im theoretischen Unterricht wurden die Daten der aktuellen Düsenjäger und Bomber gepaukt; eigene, die mit den befreundeten identisch waren, und feindliche. Außerdem mussten sie russische Zahlen beherrschen. Alle Koordinaten wurden von Funkortern durchgegeben, die über Radarschirmen hockend den Luftraum im Auge behielten; im Ernstfall konnte diese Aufgabe durchaus mal von sowjetischen Genossen wahrgenommen werden.
    Gio Waldmann verzweifelte bald. Er kam im theoretischen Unterricht nicht mit, er blickte hilflos aufs Planchett. Die Funkorter hier waren alte Hasen, gaben die Koordinaten im Stakkato-Tempo durch. War eine Übung von Abfangjägern der eigenen oder befreundeten Luftstreitkräfte angesetzt, befanden sich oft bis zu zwanzig, dreißig Maschinen in der Luft und jede ihrer Bewegungen musste im Abstand von maximal einer Minute aufs Planchett übertragen werden. Für Gio ging das alles viel zu schnell und auch mit der Spiegelschrift kam er nicht klar.
    Lenz hatte Glück. Weder die ungewohnte Schrift noch das Tempo machte ihm Schwierigkeiten. Er sprach selber schnell. Doch wie hätte er Gio unter die Arme greifen sollen? Er übte mit ihm, machte ihm Mut; eine schnellere Auffassungsgabe konnte er ihm nicht beibringen.
    Am Ende der ersten Woche wurde Lenz zum ersten Mal zum Wachdienst eingeteilt.
    Es war der Tag vor Nikolaus. Im wattegefütterten Kampfanzug, mit Filzstiefeln, Handschuhen und Pelzmütze ausgerüstet, einen grüngrauen Kopfstrumpf in der Tasche, den er beim Wachgang unter den Stahlhelm ziehen durfte, ließ er sich zusammen mit zwei anderen Wachposten, dem Wachaufführenden und den Dienst habenden »Planchettis«, Funkern und Funkortern zum Wachdienst vergattern. Die Munitionstasche – drei volle Magazine mit je 30 Schuss scharfer Munition – hing schwer am Koppel, auf dem Lauf der Kalaschnikow vor seiner Brust ließen sich Schneeflocken nieder, sie atmeten Rauchfahnen in die Luft. Der große, runde Kompaniechef mit dem Birnenschädel, zur Vergatterung ebenfalls den Stahlhelm auf der Halbglatze, ermahnte insbesondere diejenigen Genossen Flieger, die zum ersten Mal vergattert wurden, nie zu vergessen, dass es darum ging, das sozialistische Heimatland gegen die imperialistischen Aggressoren zu verteidigen. Dabei sah er jeden dieser Neuen so ernsthaft prüfend in die Augen, als wollte er herausfinden, ob er diese Nacht ruhig schlafen konnte.
    Wenige Minuten später drehte Lenz die erste Runde. Soldat am Wolgastrand hält Wache für sein Vaterland … Der Flieger Lenz aber dachte nicht ans Vaterland, der Flieger Lenz dachte daran, dass er in gut zwei Wochen zum ersten Mal auf Urlaub fahren würde, zu Hannah und Silke, und wie er sich schon jetzt darauf freute. In seiner Brieftasche steckten zwei postkartengroße Fotos: eins von Hannah, eins von Silke. Hannah hatte sie gleich nach seiner Abreise machen lassen und sie ihm noch nach Altwarp geschickt. Beim ersten Betrachten hatte er vor lauter Sehnsucht heulen müssen. Hannah war so schön und Silke sah so niedlich und pfiffig aus mit ihrer kleinen Stupsnase und den strahlend blauen Augen; kein Tag, an dem er diese Fotos nicht hervorholte.
    Ist es möglich, zwei Stunden Wachegehen bei Schneefall und eisigem Wind allein mit warmer Vorfreude totzuschlagen? Ja! Als der Wachaufführende mit der Ablösung kam, blickte Lenz überrascht auf: So rasch konnten zwei Stunden vergehen?
    Als er das zweite Mal in die Kälte hinausgeführt wurde, war es schon später Abend. Finsternis hatte den kleinen Außenposten geschluckt. Es schneite nicht mehr, doch war alles weiß: der nahe gelegene Wald, die Felder rund herum, sogar der Stacheldrahtzaun. Über Lenz ein glitzernd klarer, schwarzer Sternenhimmel und ein kalter, blasser Mond. Er dachte daran, wie unbedeutend es für die Welt doch war, dass er

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