Krokodil im Nacken
Gewissen und deshalb die Zoll- und Passkontrolle, als geübte Blicke ihn in behördengerechte Teile zerlegten – Augenfarbe, Haarfarbe, Körpergröße, Ohrläppchen, besondere Kennzeichen –, als abenteuerlich empfunden. Wie lächerlich erschien ihm nun seine damalige Angst, wie banal.
Der Barkas rumpelte über Landstraßen hinweg, bis das Pflaster besser wurde und der Verkehrslärm, der in Lenz’ engen, dunklen Käfig drang, anzeigte, dass sie die Innenstadt erreicht hatten. Als der Wagen dann endlich hielt, die Seitentür zurückgezogen und ein Verschlag nach dem anderen entriegelt wurde, war das in einer geräumigen, in gleißend helles Neonlicht getauchten Garage. Einzeln und in so großen Abständen, dass keiner der Häftlinge einen anderen zu Gesicht bekam, durften sie in dieses grelle Licht hinaustreten. Mehrere uniformierte Stasi-Leute nahmen sie in Empfang. Dabei wurde kaum gesprochen, nur gedrängelt: »Komm Se, komm Se, komm Se!« Was hier geschah, war so selbstverständlich, da lohnte kein hämisches Grinsen, keine Schadenfreude, keine Neugier und kein Zorn; es ging alles seinen oft erprobten realsozialistischen Gang.
Sie trieben Lenz ein paar Stufen hoch in einen ebenfalls hell erleuchteten Neubauflur hinein. Links und rechts waren Türen. Lenz wurde in einen Raum geschoben, der an eine Sanitätsstube erinnerte, er musste seine Personalien angeben und sich nackt ausziehen, in den Mund, unter die Vorhaut, unter die Fußsohlen und Achselhöhlen schauen und den After abtasten lassen. Als man keinerlei Schmuggelgut fand, begann man, Fragen über seinen Gesundheitszustand zu stellen. Er beantwortete sie, so gut er konnte, und hatte danach seinerseits eine Frage: Wo er sich denn hier überhaupt befand? Wie sie ihn da anschauten, die Männer in den grauen Uniformen mit den rot umränderten Achselklappen, fast so, als wunderten sie sich darüber, dass einer wie er überhaupt selbsttätig denken, geschweige denn reden konnte. »Das wer’n Se schon noch erfahrn.«
In einem anderen Raum musste er Gürtel, Uhr und Schnürsenkel abgeben; nur Taschentuch und Kamm durfte er behalten. Gleich darauf ging es durch eine Gittertür, die schwer hinter ihnen zufiel, und der Marsmann, dem er bei dieser Gelegenheit das erste Mal begegnete, öffnete eine der vielen Zellen rechts und links eines langen Flures. Lenz bekam gerade noch das rote Licht am anderen Ende des Flures mit und dass er sich noch immer in einer Art Hochparterre befand, dann stand er bereits in seiner Zelle. Der Marsmann sagte noch, dass Pfeifen, Singen und lautes Reden verboten sei und er noch einmal wiederkommen würde, um ihm Geschirr, Bettwäsche und Häftlingskleidung zu bringen. »Damit Se Ihre Sachen schonen.« Abendessen gebe es nicht mehr, dazu sei es jetzt schon zu spät.
Der Schlüssel rasselte, die beiden Riegel klirrten, und Lenz blickte sich um in dieser etwa sieben Quadratmeter großen Zelle, die ihm, gemessen an seinen bulgarischen Erfahrungen, im ersten Augenblick als wahres Luxusquartier erschien. Nur wenig später probierte er das Spülklosett aus. Es funktionierte und beinahe hätte er gestrahlt: Was für eine tolle Erfindung! Als Nächstes untersuchte er das Glasziegelfenster, entdeckte die hölzerne Lüftungsklappe und öffnete sie.
Berliner Luft! Sie schmeckte vertraut, er war zu Hause. Aber wo war er? Wo überall in der Stadt hatte die Stasi ihre Gefängnisse?
4. Wer ist wer?
S ein neunundzwanzigster Geburtstag: wecken, waschen, Schüssel rausreichen, Liegestütze, Kniebeugen, rasieren.
Es war der Knurrhahn, der Lenz an diesem Tag den elektrischen Rasierapparat mitsamt dem kleinen Handspiegel in die Zelle reichte, ein rotgesichtiger, hagerer Unterfeldwebel mit röhrender Stimme, der dabei wie immer erst lange in die Zelle spähte, als hoffte er, irgendwas Verbotenes darin zu entdecken. Hier bin ich König, besagte sein Gesichtsausdruck. Ich sehe alles. Wenn du aus der Reihe tanzt, mach ich dir Feuer unterm Hintern. Ich steh auf der richtigen Seite, du auf der falschen. Benimm dich danach.
Lenz juckte es dann jedes Mal, eine spöttische Bemerkung zu machen. Sie trugen ja Armeeuniform, all diese Wachposten, Wärter, Schließer und Läufer vom VEB Schild-und-Schwert-der-Partei, so wie vor Jahren auch er, Lenz, mal eine getragen hatte. Nur zierten ihre Achselklappen rote Streifen, der Flieger Lenz hatte blaue getragen. Was, wenn er den Knurrhahn einfach mal mit »Genosse« anredete?
An diesem Morgen war Lenz nicht nach Spott
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