Krokodil im Nacken
hatte er den Schmerz ausgehalten? Hatte er sich Tag für Tag betrunken? Den Urlaub abbrechen durfte er ja nicht, dann hätte er in Pragsdorf irgendeine Erklärung abgeben müssen. Und dann wäre man vielleicht misstrauisch geworden und hätte ihn nicht zum Wachdienst eingeteilt.
Es hieß, Gios Frau habe, als sie von Gios Tod erfuhr, einen Nervenzusammenbruch bekommen; in Pragsdorf stimmte das niemanden milde. Natürlich, wenn eine Frau einen Mann nicht mehr liebte, musste sie sich von ihm trennen – aber durfte das auf eine so unsensible Weise erfolgen?
Nach dem Abschluss der Untersuchungen hielt Ko-Chef Müller im Speisesaal eine Rede. »Genossen Flieger, Genossen Unteroffiziere, Genossen Offiziere. Uns alle hat ein Vorfall der letzten Tage zutiefst erschüttert. Über das Wachvergehen des Gefreiten Waldmann wollen wir im Nachhinein nicht richten; er befand sich offensichtlich in einer schweren persönlichen Krise. Es muss aber festgehalten werden: So wie der Gefreite Waldmann gehandelt hat, darf ein Soldat der Nationalen Volksarmee nicht handeln. Er hat unser Vertrauen auf das Schlimmste missbraucht. Weshalb hat er sich denn nicht an seine Vorgesetzten gewandt? Unsere Genossen Unteroffiziere und Offiziere haben die entsprechende psychologische Ausbildung, sie hätten ihm helfen können.«
Waldmann, der schlechteste Soldat der Kompanie, die Pfeife Waldmann, die Mimose Waldmann, hätte sich vertrauensvoll an jene Breitbrusthelden wenden sollen, die ihn verachteten? – Seine Frau ist ihm durchgebrannt? Na, dann wird er es ihr wohl nicht ordentlich genug besorgt haben, dann kann er nicht mal das, hätten sie gelästert.
Cäsar Müller: »Viele unserer Frauen und Mädchen wissen noch nicht, wie wichtig ihr Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kampfmoral unserer Genossen Flieger und Unteroffiziere ist. Sie darüber zu belehren muss eine Aufgabe der gesamten entwickelten sozialistischen Gesellschaft sein.« Sein Rat für die oberen Dienstränge: Sie, und da nehme er sich gar nicht aus, müssten künftig noch näher an den Gedanken, Gefühlen und Sorgen der ihnen anvertrauten Untergebenen sein. »Auf die Arbeit mit dem Menschen kommt es an!« Die Armee sei ja nicht nur irgendeine Zweckgemeinschaft, die Armee sei Teil der entwickelten sozialistischen Gesellschaft. »Wir haben Verantwortung für jeden Einzelnen zu tragen.«
Er redete noch lange. Schöne Worte, gestelzte Worte, hilflose Worte. Am Schluss der Zusammenkunft wurde die gesamte Kompanie zum Schweigen vergattert. Der Gegner würde solch menschliche Tragödien nur aufbauschen, um die Nationale Volksarmee und damit den gesamten Arbeiter- und Bauernstaat zu diffamieren. Fragen durften nicht gestellt werden.
In der Nacht nach dieser Rede versuchte Lenz, seine Gedanken zu Papier zu bringen. Es gelang ihm nur schlecht. Er empfand Schuldgefühle.
Wir werden auch das überleben, hatte er zu Gio gesagt, als der sich vor dem Dienst in Pragsdorf fürchtete, und ihm danach durch viel Training geholfen, nachträglich die Qualifikationsspange als Planzeichner zu erwerben. Auch in manch anderen Situationen hatte er ihm zur Seite gestanden. Aber hatte er ihn jemals ganz ernst genommen, hatte nicht auch er des Öfteren über den unbeholfenen, schussligen, tapsigen Waldmann gelächelt?
Andererseits: Die Armee trug ja nur einen geringen Teil Schuld. Letztlich war es eine private Tragödie, die Gio das Leben gekostet hatte. Auf Liebe gab es keine Garantie; in seinen Liebesangelegenheiten stand jeder ganz allein da.
Es gab mehrere solcher Katastrophen, über die nicht geredet werden durfte. Da hatte in einer Nachbarkompanie ein Unteroffizier während des Wachdienstes beim Spielen mit der Waffe einen Gefreiten erschossen, war der soundsovielte Pilot mit seiner MiG 21 bei einem Abfangversuch abgestürzt, war irgendwo hoch im Norden der Republik ein Soldat unter einen Panzer geraten. Unfälle, wie sie in jeder Armee vorkamen; wo gehobelt wurde, fielen eben Späne; wo man das Töten trainierte, gab es Tote. In sozialistischen Armeen aber durfte es so etwas nicht geben, deshalb sickerten Vorfälle dieser Art nur auf inoffiziellen Wegen durch.
Das Getuschel über solche Vorfälle gehörte zum Alltag wie das heimliche Abhören des Deutschen Soldatensenders ; ein DDR-Sender, der in die Bundesrepublik hineinstrahlte, um über Todesfälle innerhalb der Bundeswehr zu berichten. Früh, mittags und abends sendete er die aktuellsten westlichen Schlager, dazwischen wurde immer wieder über
Weitere Kostenlose Bücher