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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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verspeisen? Die Soldaten waren dagegen, die Unteroffiziere und Offiziere dafür. Nur keine Gefühlsduselei! Wo war man denn hier? Mulle bekam den Befehl, sein Beil zu holen, und tat seine Scharfrichterpflicht und war fortan für alle nur noch der Henker von Pragsdorf.
    Der Streit um Paul und Paula war damit aber noch nicht beigelegt. Jetzt lautete die Frage: Wie verhalten wir uns, wenn es grüne Bohnen mit Paul und Paula gibt? Auch dieser Tag kam heran und alle Gruppen rückten zum Essen ein. Und dann saßen sie im Speisesaal und unterhielten sich – übers Wetter, den bevorstehenden Urlaub, die letzten Fußballergebnisse. Keiner trat an Mulles Klappe, um sich einen Schlag grüne Bohnen mit Paul und Paula zu holen. Mulle tobte, Wittkowski kam. Jede Mäkelei an Mulles Kochkünsten war ein Vergehen, Essensverweigerung eine Straftat. In diesem Fall aber half auch die Androhung härtester Strafen nicht. Die unmöglichsten Ausflüchte bekam er zu hören, der Genosse Politnik: »Bin schon seit Tagen so appetitlos, Genosse Leutnant. Vielleicht hab ich ’ne kranke Leber.« – »Kann heut nichts essen. Hab schon ewig nicht mehr geschissen, fresse ich weiter, muss ich kotzen.« – »Hab Hämorrhoiden. Bei Hammelfleisch mit Bohnen plustern die sich auf und machen mäh …«
    Eine schwierige Aufgabe für den Mann, der verpflichtet war, auf alles eine Antwort zu finden. Was tat er? Er befahl drei Soldaten, von denen er annahm, dass sie am wenigsten Widerstand leisten würden, sich sofort Suppe zu holen. Die drei gingen zur Klappe und der höhnisch grinsende Mulle tat ihnen auf. Dann aber saßen die drei zum Essen Vergatterten vor ihren Tellern, in denen Stücke von Paul und Paula schwammen, wurden grün und grüner und rannten schließlich einer nach dem anderen raus, um sich zu übergeben.
    »Mimosen!«, schimpfte Wittkowski, trat an die Klappe, ließ sich mit markigem Gesicht einen Teller auffüllen und tauchte unter den Blicken von knapp sechzig Augenpaaren seinen Löffel in die Suppe. Totenstille! Er nahm den Löffel heraus und schob ihn in den Mund. Da machte der kleine Willi Scholz, kein anderer hätte das fertig gebracht, ganz leise klagend »Määh« – und Wittkowski hielt sich die Hand vor dem Mund, kippte sich den Inhalt seines Tellers über die Uniform und rannte ebenfalls aus dem Speisesaal.
    Damit war der Fall erledigt. Was ein Offizier nicht hinunterbekam, mussten niedrigere Dienstgrade erst recht nicht schlucken. Die Mittagsmahlzeit fiel aus, und die Essenskübel mit Paul und Paula wurden als Düngemittel oder Schweinefutter von den drei Bauern abgeholt, die ihnen die beiden Schafe zugeführt hatten. Sie hatten kein Verständnis für diese Verschwendung von Lebensmitteln, murrten mehrmals, dass es der heutigen Jugend viel zu gut ging, und zogen mit beleidigten Gesichtern ab.
    Eine schöne Geschichte, wie Lenz fand. Mit solchen Soldaten – und solchen Offizieren – war kein Krieg zu gewinnen; mit denen war nicht mal einer zu verlieren.
    Schrieb Lenz keine Gedichte oder Geschichten, schrieb er Briefe. Im ersten Dreivierteljahr nur an Hannah und Silke, danach an Hannah, Silke und Michael.
    Vorausgegangen war die Fußballweltmeisterschaft in England. Spannende Sommerwochen auch in Pragsdorf. In der Freizeit hielt sich der dienstfreie Teil der Kompanie fast nur noch im Fernsehraum auf und natürlich fieberte alles mit der westdeutschen Mannschaft. Auf wen hätten sie denn sonst setzen sollen? Waren sie nun Deutsche oder nicht?
    Die Offiziere sahen das anders. Die Sowjetunion, Ungarn, Bulgarien und Nordkorea nahmen doch ebenfalls an der WM teil, warum nicht den sozialistischen Bruderstaaten die Daumen drücken? Besonders im Halbfinale, als es »Deutschland« gegen Sowjetunion hieß, waren die Pragsdorfer Fernsehzuschauer zweigeteilt. Wie jubelten die Wehrpflichtigen – und seltsamerweise auch Oberfeldwebel Sievers, der überzeugte Feind aller Imperialisten –, als die Deutschen das 1:0 erzielten, wie begeisterten sie sich am 2:1-Sieg »ihrer« Mannschaft. Die Offiziere schwiegen nur pikiert, und Wittkowski warf den Jublern später vor, die Niederlage ihrer Waffenbrüder beklatscht zu haben. Willi Scholz’ Antwort: »Helmut Haller is’n Cousin von mir. Is doch klar, dass ick mir da freue.«
    Er hatte es mal wieder auf den Punkt gebracht, der Willi: Sie alle waren Cousins von Helmut Haller, die Russen waren nur ihre Brüder.
    Es waren Wochen, in denen die Zeit schnell verging und die Entlassungskandidaten sogar

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