Krokodil im Nacken
die Herumschnippelei an ihren Bandmaßen vergaßen – jeder Zentimeter bedeutete einen Tag weniger, den sie abzudienen hatten. Mitten hinein in diese fußballselige Zeit platzte aber eine dreitägige Großübung. Zum Glück an Tagen, in denen nicht gerade die Cousins spielten. Zweiundsiebzig Stunden lang war Krieg, fingen am blauen Sommerhimmel Düsenjäger einander ab und wurden die Abgefangenen in die Gefangenschaft eskortiert; zweiundsiebzig Stunden lang kamen sie nicht aus den Dienstklamotten, hockten die Funkorter über ihren Radargeräten, bekamen die Planchettis die Kopfhörer nicht von den Ohren. Und weil Cäsar Müller brillieren wollte – er war ja immer noch nicht Hauptmann –, wurde jedes Mal, wenn sich besonders viele Düsenjäger am Himmel tummelten, Lenz hinters Planchett gerufen. Er hatte nun mal die schnellsten Ohren und die flinkste Hand. Sein Lohn: drei Tage Sonderurlaub, drei Tage Hannah und Silke.
Es wurden drei herrliche Sommertage; die schönsten in diesen anderthalb Jahren. Zurück in Pragsdorf ging die Fußball-WM weiter, bis hin zu jenem für die Deutschen so traumatischen Endspiel mit dem ominösen Wembley-Tor. Die Wehrpflichtigen und Sievers trauerten, die Offiziere atmeten erleichtert auf: Das hätte ihnen gerade noch gefehlt, dass der Klassengegner Fußballweltmeister geworden wäre! Dass auch die Engländer keine Sozialisten waren, ließ sie kalt; die Engländer waren keine Cousins.
Die Freude der Offiziere aber stachelte die Wut der Soldaten über dieses Tor, das gar keines war, nur noch mehr an: War ja seltsam, dass ausgerechnet ein russischer Linienrichter – ein Bruder! – dieses Tor gesehen haben wollte. Standen dem die englischen Feinde etwa näher als die Cousins seiner deutschen Verwandten?
Eine Frage, die noch lange diskutiert wurde, Lenz jedoch bald nicht mehr interessierte: Der Sonderurlaub hatte Folgen gezeitigt – Hannah war schwanger! Keine Frage, dass nun ein Michael kommen würde, da die Silke ja schon da war. Liebe Hannah, liebe Silke, lieber Micha, begann er von nun an all seine Briefe und Hannah nahm ihm diese Beschwörungsformel nicht übel.
Fuhr er jetzt in den Urlaub, war Hannahs dicker Bauch das Wichtigste. Sie hatte so schnell nicht wieder schwanger werden wollen, nun war es doch passiert; wie hätte seine Freude nicht ansteckend wirken sollen?
Auch Silke wünschte sich ein Brüderchen, eine Schwester würde sie dann ja selber sein.
Nicht einfach für Hannah, diese Zeit so ganz allein mit Silke und dem in ihrem Bauch heranwachsenden Micha. Dennoch erlebten Silke und sie eine schöne Zeit der Zweisamkeit. Lenz fühlte sich manchmal ein wenig ausgeschlossen, war es aber nicht, wie Hannah und Silke ihm bei jedem Urlaub neu bewiesen.
Es gab andere Fälle. Jedes Mal, wenn Post verteilt wurde, waren sie zu beobachten, die Gesichter derjenigen, die voller Unruhe ihre Briefe aufrissen. Dann jedoch traf es einen, der am wenigsten damit gerechnet hatte.
Dezember ’66, der letzte Weihnachtsurlaub! In den Monaten zuvor hatten die Gefreiten Manfred Lenz und Giovanni Waldmann aus abgebrannten Streichhölzern Windmühlen gebastelt, um ihre Frauen damit zu überraschen; nun waren die Windmühlen fertig, und nicht nur Gio war überzeugt davon, dass Lenz’ Hannah und seine Elvira ihre Kunstwerke, standen sie erst unter dem Tannenbaum, gebührend bestaunen würden.
Hannah staunte dann tatsächlich sehr: Dass ihr Manne zu solch einer Geduldsarbeit fähig war! Er lachte nur und sagte was von Knastkunst, genierte sich plötzlich für diese Bastelei aus Langeweile, die ja mehr auf Gios denn auf seinem Mist gewachsen war.
Es wurde aber ein sehr schönes Weihnachtsfest. Silke war nun schon drei Jahre alt, Lenz konnte viel mit ihr spielen, und Micha klopfte schon mal zurück, wenn er Hand oder Gesicht auf Hannahs Bauch legte. Beim Abschied half der Trost: Nur noch einhundertdreiundzwanzig Tage! Wäre nicht die Sorge gewesen, wie Hannah mit allem fertig werden sollte, so ganz allein, wie hoffnungsfroh wäre er nach Pragsdorf zurückgefahren.
Am Bahnhof Neubrandenburg wartete wie immer der LKW, der die Weihnachtsurlauber nach Pragsdorf zurückzubringen hatte. Die Rotärsche stierten traurig in sich hinein, die EKs und Vize-EKs gaben sich übertrieben zukunftsfroh: Ihr letzter Weihnachtsurlaub; nächstes Jahr sollten andere sich einsammeln lassen. Lenz saß neben Gio und bemerkte nichts. Gio hatte ja immer so traurige Miene gemacht, wenn er aus dem Urlaub heimkehrte. Erst
Weitere Kostenlose Bücher