Krokodil im Nacken
mit einem Mal Felsbrocken auf sie herab, immer größere, immer mächtigere Felsbrocken, immer lauter dröhnte der Steinschlag … Die Kinder! Sie warfen sich über die Kinder und schrien …
Lenz schreckte hoch, sein Herz raste, er atmete schwer. Hinter den Glasziegelsteinen war es noch finster, das Licht über der Tür ging an, gleich darauf waren vor der Tür Schritte zu hören, die sich langsam entfernten.
Eine Weile lag Lenz wach, dann versuchte er weiterzuschlafen, fürchtete sich aber davor, in diesen Traum zurückzufallen, bis ihn der Gedanke, dass ja heute Hannahs Geburtstag war, endgültig aus dem Schlaf riss. Dreißig wurde sie nun … Wie hatten sie voriges Jahr darüber gelacht, dass sie schon in diesem Jahr eine »Frau von dreißig Jahren« sein würde, wie einer ihrer Lieblingsromane hieß. Sie lachten, weil Hannah für diese Rolle ja noch viel zu jung war; war ja ein Unterschied, ob man im 19. oder 20. Jahrhundert dreißig wurde …
Ein schöner Tag war das, dieser Hannah-Tag vor einem Jahr! Die Kinder hatten ihr selbst gebastelte Geschenke überreicht, einen langen Schneespaziergang hatten sie unternommen, jede Menge Kuchen gekauft und danach geschlemmt wie vier Götter in Frankreich. Und am Abend waren Freundinnen von Hannah gekommen und es war immer lustiger geworden … Heute würde es niemanden geben, der Hannah feierte, sie an sich drückte, ihr auf den Schoß kroch. Er konnte ihr nur still Glück wünschen und darauf hoffen, dass sie wirklich bald Glück hatte … Ich wünsche dir das Beste, denn geht’s dir gut, geht’s mir noch viel besser. So sagten sie immer, wenn einer von ihnen Geburtstag hatte. Ein Scherz – und doch die Wahrheit.
Lenz bekam nun nicht mehr die Berliner Zeitung ; im Frauentrakt wanderte das Neue Deutschland von Zelle zu Zelle. Aber natürlich las er es, er war ja nach wie vor froh über jede Abwechslung. Doch nicht mal der Wunsch, die Zeit mit Lektüre totzuschlagen, konnte ihn dazu bewegen, bestimmte Artikel bis zu Ende zu lesen.
Wie sie logen! Wie sie die Wahrheit umbogen, nur damit ihre Theorie stimmte! Wie monoton sie schrieben! Der Sozialismus eilte von einem Sieg zum anderen, die Arbeitsproduktivität stieg ständig, ein glückliches Leben in Frieden und Geborgenheit lebten sie, die Bürger da draußen.
Wollte das ND seine Leser auf diese Weise einschläfern – ein müder Kopf denkt nicht gern? – oder konnten diese Lohnschreiber es nur nicht besser?
Sollten Hannah, Silke, Micha und er tatsächlich über dieses Anwaltsbüro Vogel in die Bundesrepublik ausreisen dürfen und Hannah und er sich irgendwann, aus welchen Gründen auch immer, in ihr altes Leben zurücksehnen, dann würden sie sich nur von irgendwoher ein ND besorgen müssen. Ein Blick hinein und sie wären geheilt.
Doch es gab auch wirklich positive Nachrichten in jenen Tagen. In Vietnam war ein Ende des Krieges abzusehen. Das von den sozialistischen Ländern unterstützte, tapfere vietnamesische Volk habe der Großmacht USA eine Niederlage zugefügt, verkündete das ND .
Also hatte es auch ohne die tätige Mithilfe des Oberfeldwebels Sievers und der Pragsdorfer Kompanie geklappt. Unsere gute Sache, unsere Solidarität, unser strebsames, fleißiges Volk – wir alle, die Sieger!
Lenz freute sich trotzdem.
An diesem 30. Januar aber schaffte er es nicht, den Artikel über das Pariser Waffenstillstandsabkommen zu Ende zu lesen, die Zellentür ging und er wurde nach längerer Zeit mal wieder in den Vernehmertrakt geführt. Knuts Vorliebe für ganz besondere Tage! Oder hatte er etwa – vorsichtige Freude – Hannah einen Geburtstagssprecher zum Geschenk gemacht?
Doch der Leutnant saß allein in seinem Zimmer. »Na? Lange nicht gesehen!«
»Das lag nicht an mir. Ich war zu Hause.« Lenz musste seine Enttäuschung verbergen.
»Schön, dass Sie sich bei uns schon wie zu Hause fühlen.«
Knut legte Zigaretten vor ihn hin und stellte ein kleines Radio an, das er zu Lenz’ Überraschung auf dem Panzerschrank stehen hatte. Wollte der Leutnant es ihm und sich ein bisschen gemütlich machen? Oder sollte doch noch eine Geburtstagsfete starten?
Biedere östliche Schlagermusik ertönte, doch ging sie Lenz durch und durch. Wann hatte er denn zum letzten Mal Musik gehört?
»Gefällt Ihnen mein Pullover?«
Was war das denn für eine Frage? Beinahe wäre Lenz das schon angezündete Streichholz aus der Hand gefallen. »Ja«, sagte er zögernd. »Hübsches Grün.«
Knut lehnte sich in seinen Stuhl
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