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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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drei, vier Tage später stutzte Lenz. Sonst hatte Gio sich irgendwann wieder gefangen, diesmal hielt die Traurigkeit an. »Ist zu Hause irgendwas passiert?«, fragte er. Die Antwort: »Nee. Was denn?« Und ein gequältes Grinsen: »Noch hundertneunzehn Tage!«
    Gio führte alle Befehle aus, tat Dienst wie immer, war nur nicht mehr ganz so duldsam. Er hatte plötzlich keine Angst mehr; nicht vor Sievers, nicht vor Kunze, nicht vor Wittkowski, nicht vor Cäsar Müller. Manchmal lächelte er sogar, als würde er sie allesamt nicht mehr ernst nehmen. Lenz jedoch ahnte nichts, freute sich sogar, dass Gio endlich allen übertriebenen Respekt abgelegt hatte. Als es dann passiert war, traf ihn die Erkenntnis über seine Blindheit wie ein Schlag: Er war ja nur deshalb so lässig geworden, der Gio Waldmann, weil er bereits mit allem abgeschlossen hatte! Ihn hatte nichts mehr interessiert. Er hatte nur noch still darauf gewartet, mal wieder zur Wache eingeteilt zu werden – um scharfe Munition zu empfangen.
    Dieser Schuss! Wie sie da in ihren Betten hochgefahren waren. Ein einzelner Schuss mitten in der Nacht? Was hatte der zu bedeuten? Ein Spion, der gestellt worden war? Ein Warnschuss? Ein – haha – Nato-Angriff? Alle möglichen Vermutungen wurden angestellt, über die meisten durfte gelacht werden. Doch dann hasteten plötzlich Stiefel durch die Baracke. Sie sprangen auf, stürzten hinaus – und erfuhren, was geschehen war: Gio hatte sich erschossen. Er hatte sich über seine Kalaschnikow gekniet, auf Einzelfeuer gestellt und sich direkt in die Stirn geschossen …
    Anfangs überwogen die Zweifel. Gio sollte so etwas getan haben, ausgerechnet Gio, der bis zuletzt nicht gelernt hatte, wie man mit der Waffe umging? Danach herrschte allgemeine Bestürzung: Was war der Anlass für diese Verzweiflungstat?
    Lenz traf die Nachricht am tiefsten. Erst konnte er vor Schreck und Entsetzen nicht klar denken, dann stieg Wut in ihm auf: Wie hatte Gio nur so etwas tun können! Weshalb hatte er sich ihm nicht anvertraut, wenn irgendetwas Schlimmes passiert war? Er hätte ihm doch geholfen … Als dann aber die Hintergründe dieser Tat bekannt wurden, wusste er nicht, ob er Gio tatsächlich hätte helfen können: Gio Waldmanns Freitod hatte mit seiner Frau zu tun.
    Gios Elvira war noch sehr jung, erst achtzehn Jahre alt. Als er sie kennen gelernt hatte in dem Potsdamer Schuhladen, in dem sie Verkäuferin lernte, war sie sogar erst sechzehn. Oft hatte er erzählt, wie verknallt sie sofort ineinander waren, er in seine rothaarige, ganz weißhäutige, vollbusige Elli, sie in ihren so südländisch brünetten Gio. Nicht lange und sie wurde schwanger, sie heirateten und sie zog zu ihm aufs Land. Wenige Wochen nach der Geburt ihrer Jacqueline aber wurde Gio zur Musterung bestellt und kurz darauf eingezogen.
    In Gios Schrank hing ein Foto von seiner Elli; ein noch sehr kindliches, unfertiges, hübsches Mädchengesicht. Wenn er sich unbeobachtet glaubte, sah Gio dieses Foto lange an. Es sah fast aus, als betete er zu ihr. Als er an diesem Weihnachten auf Urlaub kam, so berichtete Elvira Waldmann vor der militärischen Untersuchungskommission, sei sie wie immer gleich mit ihm ins Bett gegangen – allerdings nur, um ihm gleich darauf zu sagen, dass sie ihn noch an diesem Tag verlassen werde. Sie habe inzwischen jemanden kennen gelernt, einen verwitweten Handwerksmeister, älter als Gio, reifer als er, wohlhabender als er. Dass sie sich noch mal zu Gio ins Bett gelegt hatte, sollte nur ein kleiner Trost sein. Sie habe Gio nicht enttäuschen wollen; sie wusste ja, wie sehr er sich immer auf sie freute. Danach aber habe sie ihm alles gestanden, und da sei er vor ihr auf die Knie gefallen, um sie zum Bleiben zu bewegen. Doch habe sie das abgelehnt. Sie wollte nicht mit Gio Weihnachten feiern und dabei immerzu an den anderen denken. So habe sie noch an diesem Abend – der Tag vor Heiligabend, ihr neuer Freund holte sie ab – ihre Tochter genommen und sei gegangen.
    Gios Mutter sagte aus, Gio habe sie noch am gleichen Tag angerufen und sich dafür entschuldigt, dass seine Frau, die kleine Jacqueline und er sie am ersten Weihnachtsfeiertag nicht besuchen könnten; Frau und Tochter hätten eine fiebrige Grippe. Als sie daraufhin einen Krankenbesuch machen wollte, habe er ihr das strengstens untersagt. Er wolle nicht, dass sie sich anstecke.
    Demzufolge war Gio die gesamten Feiertage über allein geblieben. Was aber hatte er in dieser Zeit getan, wie

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