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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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gekannt hatten, von dem sie aber nicht mehr so ganz genau wussten, wie er aussah. Die fremden Besucher mussten sich ihnen auch gar nicht erst vorstellen, sie erkannten sie schon an ihren Autos, ihren Schuhen, Anzügen, Hemden und Krawatten. Sie waren farbiger angezogen als die Ostler, diese Kinder des Westens, deshalb erschien ihnen der Osten grau; sie erzählten am liebsten von ihren Autos, Kühlschränken, Waschmaschinen, Farbfernsehern und Urlaubsreisen, und deshalb hielten sie die Besuchten, die das alles in so toller Ausführung nicht hatten, für arm. Noch schlimmer aber war es, wenn diese außerirdischen Fabelwesen nicht von ihrem Leben in Glück und Reichtum schwärmten. Dann spürten die Besuchten die Pietät und waren erst recht beleidigt. »Uns geht’s gut«, logen sie dann. »Uns fehlt zwar das und das und das und das – aber ansonsten geht’s uns gut.«
    Fränze war anders. Zwar erschien sie Hannah und Lenz anfangs auch irgendwie außerirdisch, aber auf eine andere, fast schon gegenpolige Art: Sie lehnte alle westliche Protzerei und jede östliche Demut ab, und ihr Interesse am Leben diesseits der Mauer, so bewiesen ihre Fragen, war echt.
    Fränze mochte die Kinder, mit denen sie sich oft so ernsthaft unterhielt, als wären sie Erwachsene, sie mochte Hannah, die sie immer mehr als eine jüngere Ausgabe von sich selbst betrachtete, sie mochte den Schreiber Lenz, der sich so viele Fragen stellte. Oft erzählte sie, wie die jüngere Generation in den westlichen Ländern ihren Protest gegen die Konsum- und Ellenbogengesellschaft ihrer Eltern auslebte: »Studiere deine Alten und mach in allem das genaue Gegenteil, dann liegste richtig.« Über die DDR sagte sie, dass sie in einem Land, in dem die Anpassung ans Establishment nicht nur als höchste aller Tugenden gelte – das sei im Westen ja nicht sehr viel anders –, sondern in dem, wer sich nicht anpassen wolle, auch noch strafrechtlich verfolgt werde, nicht leben könnte. »Bei euch würde ich aus dem Knast ja gar nicht mehr rauskommen.«
    Lenz: »Bei uns wärste eine andere. Kein halbwegs mit normaler Intelligenz ausgestattetes Kind verbrennt sich die Hände an immer demselben Feuer.«
    Fränze: »Es gibt Leute, die gar nicht anders können, als wider den Stachel zu löcken. Die müssen den Mund aufmachen, sonst ersticken sie.«
    Lenz erschrak: Genau so einer war er. Weshalb verteidigte er die Vorsichtigen?
    Fränze hasste alles, was sie einengte, kämpfte gegen jede Lüge und jede Maßregelung an, als fühlte sie sich davon persönlich beleidigt. Entdeckte sie auf einem gemeinsamen Spaziergang an einer Hauswand irgendein Verbotsschild und war es nicht angeschweißt oder einzementiert, schraubte sie es zum Vergnügen der Kinder und unter Hannahs kopfschüttelnden Blicken mit ihrem Schweizer Taschenmesser, das sie stets und ständig in ihrem Parka mit sich herumtrug, einfach ab. Sie hatte eine gewisse Technik darin entwickelt, stellte sich mit dem Rücken vor das zu entfernende Schild, nahm die Hände nach hinten, redete mit ihnen – und schraubte. In ihrer Bockenheimer Wohnung habe sie Dutzende solcher Schilder hängen, erzählte sie, und noch nie sei sie bei einer ihrer Abschraubaktionen erwischt worden.
    Kam sie nicht per Flieger, sondern mit ihrem alten VW-Käfer nach Berlin, machte sie sich einen Spaß daraus, Volkspolizisten in ihren Streifenwagen zu überholen und ihnen dabei zuzuwinken. Wurde sie daraufhin gestoppt und zum Aussteigen genötigt, fragte sie mit bekümmerter Miene, ob es einer Bürgerin der BRD etwa verboten sei, ihre Sympathie mit den Sicherheitskräften des ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem Boden durch freundliches Zuwinken zum Ausdruck zu bringen. Blätterten die Polizisten, nun erst recht misstrauisch geworden, zu lange in ihrem Reisepass, nahm sie zwanzig Westmark aus ihrer Börse und fragte höflich, ob sie ihnen die überreichen dürfe – für den Solidaritätsbasar. Die Ordnungshüter wussten, dass sie verarscht wurden, aber was hätten sie Fränze vorwerfen können? Übertriebene Sympathie? Sie bekamen vor Wut rote Ohren, beließen es aber bei einer Verwarnung, weil sie ja keinerlei Handhabe für irgendeine Ungesetzlichkeit hatten, und dampften zügig wieder ab.
    Fuhren sie mit der S-Bahn ins Grüne, unterhielt Fränze den ganzen Waggon. Was sie vom Fenster aus sah – Einheitsneubauten, verfallene Altbauten, Transparente mit markigen Sprüchen –, alles erhielt viel laut geäußerte Zustimmung. Einige

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