Krokodil im Nacken
Fahrgäste lachten, andere begannen mit der Westzicke eine Diskussion. Sie solle nicht alles mies machen, die DDR habe nun mal die schlechteren Startbedingungen gehabt – keine Rohstoffe, kaum Industrie. Dem widersprach die Westzicke vehement: In der DDR hätten doch von Anfang an die Arbeiter und Bauern regiert, die doch bekanntermaßen sehr fortschrittlich seien, im Westen hingegen herrsche noch immer das konservative Kapital. Wie könne man da von schlechteren Startbedingungen reden?
Eine Logik, die ihren Diskussionspartnern die Sprache verschlug.
Silly und Micha fanden, ihre Tante Fränze sei eine Indianerin, und so ganz falsch lagen sie damit nicht. Schon ihr Äußeres regte zu diesem Vergleich an. Oft trug sie um den Kopf ein buntes Stirnband, die graugrünen Augen und die leicht gebogene, schmale Nase verliehen ihrem Gesicht einen kühnen Ausdruck, der schmale Mund hatte etwas Entschlossenes. Ihre Jeans waren zerfranst wie Winnetous Hose, ihre Pullover, Pullis und Blusen bunt wie ein Blumenbeet. Andere Frauen hatten in ihrem Alter längst Mann und Kinder, Fränze hatte zwar einen Freund und jede Menge männliche und weibliche Bekannte, lebte aber noch immer allein. Als Lenz sie einmal nach den Gründen für ihr »Eremitendasein« fragte, antwortete sie: »Willst du als Frau frei sein, darfst du dich nicht selbst anketten.« Da ihre Schwester anders gehandelt hatte, milderte sie diese Worte aber gleich darauf ab, indem sie scherzte: »Ich halt mich in Reserve, Hannah. Sollte dir mal was passieren, übernehme ich deinen Mann und deine Kinder.«
Es machte Spaß, mit Fränze zu diskutieren. Sie sprach gern über ihre eigenen Gedanken; was »alle« machten, sagten oder dachten, war ihr suspekt. Zwar sei sie Demokratin mit Leib und Seele, aber: »Die Demokratie, wie sie im Westen praktiziert wird, ist nicht das Nonplusultra. Die Mehrheit hat selten Recht. Was die Mehrheit will, ist ihr eingeflüstert worden. Eine bessere Regierungsform aber hat noch niemand erfunden, also müssen wir aus diesem kleinsten aller Übel das Beste machen.«
Sie unternahm gern Reisen und hatte mit ihrem VW-Käfer schon halb Europa abgeklappert; mal mit ihrem Freund, mal mit einer Freundin, mal allein. Doch darüber sprach sie nicht gern. »Griechenland, Korsika, Frankreich – ich will euch nicht die Speisekarte reichen, wenn ihr diese Gerichte ja doch nicht bestellen könnt.«
Schwer zu glauben, dass da keine Ewigstudentin vor ihnen saß, sondern eine Frau, die bereits vor fünf Jahren ihren Doktor gemacht hatte und eine anerkannte Romanistin an der Frankfurter Universität war. DDR-Frauen, die solche Positionen erreicht hatten, liefen in Kostümen oder Hosenanzügen herum, waren Greta Garbo oder Tante Erna, aber keinesfalls Winnetou.
Für Hannah war die wiedergewonnene Schwester ein Glücksfall. Allen äußerlichen Unterschieden zum Trotz hatten Fränze und sie viele Gemeinsamkeiten. Beide lehnten sie jede Unehrlichkeit ab, hassten sie Heuchler und Intriganten und Politiker, die nicht wussten, was wirklich wichtig war. Beide malten sie gern und liebten die Literatur der alten Russen. Hannah sagte oft, wäre sie im Westen geblieben, wäre aus ihr vielleicht auch so eine Art Winnetou geworden.
Eines Abends, nach einer langen Stadtwanderung, die Kinder lagen bereits in ihren Betten, passierte es dann. Da war Fränze auf einmal ungewohnt schweigsam, und als sie sie fragten, was sie denn habe, verriet sie ihnen, dass sie sich nach jedem Besuch mehr wünsche, dass Hannah, die Kinder und auch Lenz erreichbarer für sie wären. Diese ewigen Besuche von Planet zu Planet seien auf die Dauer ja frustrierender als eine lange Trennung.
Hannah empfand nicht anders. Jedes Mal, wenn Fränze sie verließ, hatte sie das Gefühl, vom Leben mal wieder aufs Abstellgleis geschoben worden zu sein. Dazu der Ärger im Betrieb – sie war noch immer in keiner gesellschaftlichen Organisation –, und bei jedem neuen Fränze-Besuch, den sie meldete, die Augenbrauen, die in die Höhe gingen. Außerdem Silkes Schule, Michas Kindergarten, der Ehemann, der keine Chance bekam, sein Talent auszuprobieren. Und das Allerschlimmste: keine Hoffnung, dass sich an diesen Zuständen jemals etwas ändern würde. Sie beteuerte ihrer Schwester, dass sie sie nicht weniger vermisse, daran aber leider nichts zu ändern sei. »Bin ja schon froh, dass du jetzt wenigstens öfter mal kommst.«
Fränze: »Glaubst du wirklich, dass daran nichts zu ändern ist?«
Lenz, lachend:
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