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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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»Denkste, in meinem Alter fängt man noch mal ganz von vorn an?«
    Lenz: »Na ja, würdest sicher ’ne schöne Rente kriegen.«
    H.H.M.: »Ich fahre, um meinen Sohn zu beerdigen, und komme wieder zurück. Das ist hundertprozentig.«
    Ein Weilchen sah Hannah ihren Vater nur an, dann entschloss sie sich, ebenfalls einen Reiseantrag zu stellen. »Mal sehen, was passiert.«
    So wurden am Montag darauf drei Reiseanträge gestellt und für Hannah kam es zu der von Lenz vorausgesagten Ablehnung; das unproduktive, nur Kosten verursachende Rentnerehepaar Möller hingegen durfte reisen. Stiller Wunsch des Staates: Hoffentlich bleiben sie weg!
    Hannah hatte mit diesem Bescheid gerechnet; ihren Zorn jedoch milderte das nicht. Freiwillig war sie einst in die DDR gekommen; hätte sie alle ihre Verwandten mitbringen müssen, um sicherzugehen, nicht eines Tages bei Trauerfällen von ihnen abgeschnitten zu sein? Ihr Mann hatte um die halbe Welt reisen dürfen, zum Nutzen des Staates natürlich, seine in der Heimat verbliebene Familie garantierte seine Wiederkehr. Eine Trauerreise brachte dem Staat keinen Nutzen, da reichten keine drei Geiseln für ein Visum.
    Sie suchte mehrere Dienststellen auf, um sich zu beschweren. Überall wurde sie abgewiesen. An dieser Entscheidung gebe es nichts zu rütteln. Wer sie zu verantworten habe? Eine andere Dienststelle, eine, die keine Sprechstunden hatte.
    »Wenn ich heute einen fahren lasse, muss ich morgen wieder einen fahren lassen«, sollte Ulbricht, auf die Reisegenehmigungspraxis angesprochen, mal geantwortet haben. Nur ein Witz? Auf jeden Fall ein Kunstfurzer, der Genosse Erster Sekretär und Staatsratsvorsitzender. Stets ließ er nur Nützliche fahren – Kaufleute, Sportler, andere Künstler; Trauerreisen brachten weder Devisen noch Anerkennung.
    Nein, Hannah hatte sich keine falschen Hoffnungen gemacht, dennoch wurde sie krank. So niedergedrückt, so depressiv hatte Lenz sie noch nicht erlebt. Nur noch lustlos ging sie zur Arbeit. Lachen konnte sie erst wieder, als ein Brief von ihrem Vater kam: Hilde und er hätten sich nun doch entschlossen, in Frankfurt zu bleiben. Er habe sich erkundigt, er werde hier ja wirklich eine sehr schöne Rente bekommen, viel höher als im Osten. Und eine Wohnung sei auch kein Problem. Sie hätten sich schon eine angesehen, zwar nicht in Frankfurt, sondern in Offenbach, sie sei jedoch sehr gut geschnitten und habe Morgensonne. »Ihr aber, liebe Hannah und lieber Manfred, solltet nicht glauben, im Westen wäre alles besser. Auch hier haben die Menschen ihre Sorgen und das Geld wächst nicht auf Bäumen. Und ihr habt doch so schöne Berufe. Für euch ist es sicher richtiger, in der DDR zu bleiben.«
    Kein Wort darüber, dass die Tochter den Vater nun aller Wahrscheinlichkeit nach niemals mehr wiedersehen würde! Auch wenn man die Rentner gern los wurde, Republikflüchtling blieb Republikflüchtling, eine Besuchsreise zurück in den Osten war unmöglich. Keine einzige Zeile des Bedauerns von dem Mann, der doch wissen musste, dass er die Tochter, die ihm einst ins selbst verschuldete Exil gefolgt war, mit diesem Schritt verriet. Dafür zwischen den Zeilen Mutter Hildes Grinsen: Die schwierige Stieftochter war sie los.
    Hannah lachte nur böse und zerriss den Brief in tausend Schnipsel; Lenz versuchte sie aufzuheitern: »Schade! Das wäre was für die Akademie der Künste gewesen, auszustellen unter der Rubrik: Die hohe Kunst des Verdrängens.«
    Schwägerin Franziska empfand ähnlich. Eines Sonntags stand sie in der Tür, groß, blond, Igelschnitt, Mitte dreißig. Unangemeldet war sie gekommen, strahlend vor Freude über die gelungene Überraschung packte sie ihre Geschenke aus; vom ersten Tag an war sie der Liebling der Kinder.
    Zu Hannah sagte sie: »Verzeih deiner egozentrischen Westschwester, Aschenputtel.« Zu Lenz sagte sie: »Mal sehen, was du für einer bist!«
    Dem ersten Besuch folgten weitere. Bald stand Fränze jeden dritten, vierten Monat vor der Tür. Silke und Micha sahen dann jedes Mal schon Stunden zuvor aus dem Fenster und Hannah und Lenz stellten sich hin und wieder dazu. Schön, dass die große weite Welt mal wieder bei ihnen hereinschaute!
    Diese Vorfreude war nicht selbstverständlich. Besucher aus dem Westen betraten den Ostteil der Stadt oft wie einen fremden, ihrer Kultur unterlegenen Planeten und vermittelten den Besuchten damit tatsächlich das Gefühl, Wesen von einem anderen Stern zu empfangen; einem Stern, den sie früher mal

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