Krokodil im Nacken
insgesamt zwanzigtausend Mark.
Hannah: »Aber wie sollen wir dir das je zurückzahlen können?«
Fränze: »Müsst ihr ja gar nicht. Ich mach doch mit euch keine Geschäfte.«
Nein, Zweifel waren nicht mehr möglich: Es war Fränze verdammt ernst mit ihrem Vorschlag und sie hatte die Sache schon gründlich durchdacht. »Erwartest du etwa von uns, dass wir uns gleich entscheiden?« Lenz’ Stimme klang vorwurfsvoll. Fast fühlte er sich überrumpelt.
Die Schwägerin erwartete keine rasche Entscheidung. »Zu lange dürft ihr allerdings auch nicht zögern, sonst muss ich erst wieder einen neuen Lieferanten suchen.« Sie blickte sie an und zuckte die Achseln. »Natürlich ist das Ganze ein wenig illegal. Aber wenn man durch die Verhältnisse dazu gezwungen wird, ist das doch keine Schande. Euer Staat verweigert euch die simpelsten Menschenrechte. Da bleibt einem doch gar nichts anderes übrig.«
Sie einigten sich auf einen Monat Bedenkzeit. Dann sollte Hannah in einem langen, schwesterlichen Kleinkram-Brief wie nebenbei erwähnen, dass Silly mal wieder Schnupfen hatte. Kam dieser Brief, würde Franziska alles in die Wege leiten; kam ein Brief, in dem nicht von Sillys Schnupfen die Rede war, würde sie wissen, dass ihr Angebot endgültig abgelehnt worden war. Kam gar kein Brief, würde sie anrufen und ganz beleidigt fragen, weshalb Hannah ihr denn nicht mehr schrieb; war dann der Brief verloren gegangen oder irgendwie abgefangen worden, würden sie das Ganze sofort abblasen.
Sie besprachen das alles und dann saßen sie einander gegenüber und schwiegen, und Lenz sah Hannah an, dass sie das Gleiche dachte wie er: War das denn wirklich wahr, sie sollten mit ihren Kindern durch halb Europa reisen, nur um von Ost nach West zu gelangen? Mit gekauften westdeutschen Pässen? Das Risiko, das sie eingingen, wenn sie Franziskas Angebot annahmen! Was wurde aus den Kindern, wenn sie an der Grenze entdeckt wurden? Die Eltern kamen ins Gefängnis, das stand fest, aber was wurde aus den Kindern?
Fränze versuchte, sie zu beruhigen. »Was soll denn schief gehen? Ihr habt echte Pässe in den Händen, keine Buntstiftzeichnungen. Außerdem zeige ich euch vorher meinen Pass und meine Stempel. Ihr könnt vergleichen. Erkennt ihr irgendwelche noch so feinen Unterschiede, betrachten wir die ganze Sache als erledigt und ihr fahrt brav in eure realsozialistische Heimat zurück.«
Hörte sich wirklich gut an. Eine Urlaubsreise nach Bulgarien war schließlich kein Verbrechen. Und wenn ihnen die Pässe nicht hundertprozentig in Ordnung erschienen, waren Fränzes zwanzigtausend Mark eben futsch. Sie würde deshalb nicht verhungern. Es war ihr Plan, ihr Angebot; sie war alt genug, um zu wissen, was sie tat …
Fränze: »Denkt bitte nicht, dass ich euch aus lauter Abenteuerlust in eine solche Sache verwickeln will. Ich will euch helfen, weil ich irgendwie ein schlechtes Gewissen habe. Alle paar Monate besuche ich euch in eurem Käfig und habe jedes Mal auf der Heimfahrt ein ungutes Gefühl. Ihr wisst von mir nur, was ich euch von mir erzähle, ich weiß von euch nur, was ihr mir vorführt. Hätte ich mich früher um Hannah gekümmert, wäre zumindest sie nie in diese Situation geraten. – Verdammt noch mal, ich will meine Schwester zurück!«
Die beiden Schwestern fielen sich in die Arme, weinten ein bisschen.
»Ich will euch wirklich nichts aufschwatzen. Ihr müsst entscheiden. Aus meiner Sicht ist die Sache ungefährlich, sonst hätte ich euch schon der Kinder wegen dieses Angebot doch erst gar nicht gemacht.«
Was folgte, war eine zerrissene Zeit. Zwar lief der Alltag weiter wie gehabt, die Entscheidung aber, die Hannah und Lenz zu fällen hatten, verdrängte alles andere wie hinter einen dichten Nebel. Keine Sekunde ging ihnen der Brief, den Hannah Fränze schreiben sollte, aus dem Kopf; nachts lagen sie endlos lange wach und diskutierten ihre Situation.
Was riskierten sie, wenn sie Franziskas Angebot annahmen? Was schlugen sie aus, ließen sie sich nicht darauf ein? Wer waren sie, und was bedeutete ihnen die Gesellschaft, in der sie lebten? Wenn sie sich auf Fränzes Plan einließen, rannten sie dann nicht vor ihrem eigenen Leben davon, als hätte es darin nie etwas Schönes gegeben?
Aber das war es ja gerade: Ihr Leben durfte nicht so weitergehen wie bisher. Auch – oder vor allem – wegen der Kinder … Doch wenn ihre Flucht misslang, wie sollten sie damit fertig werden, ihre Kinder in ein solches Abenteuer gestürzt zu
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