Krokodil im Nacken
sahen in jeder Flucht ein Versagen. »Menschenskind!«, hatten sie gesagt, wenn darüber mal theoretisch diskutiert wurde. »Nichts ist bequemer für diesen Staat, als wenn alle Unbequemen abhauen. Was soll aus diesem Stück Brachland denn werden, wenn alle, die noch einen Funken Moral im Leibe haben, fortgehen? Wir sind hier zu Hause. Sollen doch die Betonköpfe, die verhindern, dass wir hier den wahren Sozialismus aufbauen, verschwinden.«
Nachhallende Stimmen, die nicht so leicht zu verscheuchen waren. Klang ja irgendwie gut: nicht fortgehen, hier bleiben, Widerstand leisten! Nur: Was war zu tun, solange gar kein wirklicher Widerstand stattfand? Gleichgesinnte suchen, ohne der Stasi in die Hände zu fallen, war unmöglich; Opfergang von ein paar Sturköpfen, die den Kopf herausstreckten, während alle anderen ihn einzogen. Außerdem: Brauchte man zum Kämpfen denn nicht ein erreichbares Ziel, vielleicht sogar eine Vision? Welche aber sollte das sein, nur vier Jahre nach Prag?
Nein, es gab keine Pflicht zum Bleiben, solange man damit nichts bewirken konnte. Aber vielleicht gab es ja die Pflicht, sich nicht länger benutzen zu lassen für eine Sache, die man nicht mitverantworten wollte. Wer in einem Zug gegen die Fahrtrichtung lief, fuhr ja dennoch mit – wenn er Pech hatte, einem Abgrund entgegen. Und wenn keine Möglichkeit war, den Zug zum Halten zu bringen, musste man dann nicht wenigstens rechtzeitig abspringen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot?
Die letzten Tage. Hannah trennte aus allen Kleidungsstücken die Markenzeichen – falls die Grenzkontrolleure in Malko Tarnovo ihre Koffer durchsuchten, sollten sie nicht auf lauter DDR-Markennamen stoßen –, Lenz schickte einige wenige als Geschenke getarnte Erinnerungsstücke an Fränze.
Die Kinder waren hochgestimmt, so sehr freuten sie sich auf Bulgarien. Sie würden im Meer baden, jeden Tag würde die Sonne scheinen, sie würden viel Eis essen. Lenz und Hannah beschämte diese Vorfreude, dennoch bestärkten sie sie darin: Das alles würden sie ja wirklich tun. Hatten sie erst die bulgarisch-türkische Grenze hinter sich, würden sie sich noch ein paar schöne Tage machen, bevor sie die weite Autofahrt nach Frankfurt in Angriff nahmen. So war es mit Fränze verabredet.
An einem der Abende, sie hatten einen langen Spaziergang gemacht, kamen sie in die Wohnung zurück, und ihnen fiel auf, dass der Schlüssel zur Wohnzimmertür fehlte. Erschrocken sahen sie sich an. War jemand in ihrer Wohnung gewesen? Normalerweise hätte dieser fehlende Schlüssel sie nicht weiter beunruhigt – die Kinder verbummelten öfter mal etwas –, in ihrer jetzigen Situation hegten sie sofort Verdacht. Nervös suchten sie die ganze Wohnung ab, konnten den Schlüssel aber nirgends finden.
Immer wieder befragten sie die Kinder, die sich wunderten, weshalb ihre Eltern wegen dieses Schlüssels, der doch nur in der Tür gesteckt hatte und nie benutzt worden war, so aufgeregt waren. Glaubhaft versicherten sie ihnen, den Schlüssel nicht angerührt zu haben.
Sie nahmen sich zusammen, sagten den Kindern, na, dann müssten sie sich eben einen neuen Schlüssel anfertigen lassen, und brachten sie ins Bett. Danach besprachen sie flüsternd diesen Vorfall: Was, wenn die Stasi in ihrer Wohnung gewesen war? Vielleicht, um eine Wanze einzubauen? Und irgendwer hatte den Schlüssel abgezogen, um ihnen eine Warnung zu übermitteln: Bleibt lieber hier, wir wissen Bescheid?
Lenz: »So menschenfreundlich sind die nicht.«
Hannah: »Es könnte einer gewesen sein, der noch ein Gewissen hat.«
Das war nicht unmöglich. Viel wahrscheinlicher aber war, dass der Schlüssel schon seit Wochen oder Monaten nicht mehr in der Tür gesteckt hatte und es ihnen nur noch nicht aufgefallen war. Eben weil sie die Wohnzimmertür nie abschlossen. Und jetzt hatten sie sein Fehlen bemerkt, weil sie in ihrer Furcht vor dem Kommenden so besonders aufmerksam waren. Wäre es da nicht überängstlich reagiert, wenn sie wegen diesem blöden, verschwundenen Schlüssel die ganze Sache abblasen würden?
Der Tag der Abreise.
Sie packten und im Fernseher flimmerte die Eröffnungsfeier der Olympiade. München! Eine Stadt, die sie nun bald kennen lernen würden; in einer kleinen Pension wollten sie zwei Tage Rast machen.
Der Zug fuhr erst in den Abendstunden, sie aßen noch zu Hause. Lenz briet Hähnchen, seine Spezialität. Die Kinder aßen voller Appetit und überboten sich in ihrer Vorfreude gegenseitig: Eine ganze Nacht,
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