Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
Vom Netzwerk:
Franziska ihnen zum Zeichen dafür, dass alles glatt gegangen war und sie keinerlei Auffälligkeiten bei ihrer Passabfertigung beobachtet hatte, von der WestBerliner Aussichtsplattform aus zuwinkte. War alles unauffällig geblieben, würde sie die Hand seitwärts bewegen, andernfalls auf und ab winken.
    Fränze kam und winkte ihnen zu, indem sie die Hand seitwärts bewegte. Sie winkten auf die gleiche Weise zurück: Alles klar!
    Später saßen sie bis tief in die Nacht im Wohnzimmer auf der Couch, hielten sich an den Händen und schwiegen. Es gab nichts mehr zu bereden. Sie konnten, wollten, durften nicht mehr zurück.
    Ein Sommer des Abschieds. Lenz’ Spree – durch Frankfurt am Main floss sie nicht. Und überhaupt, als »Republikflüchtling« würde er seinen Teil der Stadt so schnell nicht wieder besuchen dürfen. Die geplante Flucht bedeutete auch Verzicht. Einziger Trost: Der Verlust des Ostteils wurde ihm mit dem Wiedergewinn des Westteils entgolten; für ihn ja auch Heimat.
    Er kaufte sich Filme und machte jedes Wochenende mit Hannah, Micha und Silke Ausflüge. Alles wollte er mitnehmen: den Ersten Ehestandsschoppen – egal, dass er nur einen Schuh-Express fotografierte –, die Straßen drum herum, den dritten Hinterhof der Dunckerstraße 12 und den Seitenflügel der Woldenberger Straße 19. Er fotografierte die Hochbahn über der Schönhauser Allee und das Haus, in dem Tante Grit und Onkel Karl gewohnt hatten, den Alexanderplatz, den Lustgarten, die Straße Unter den Linden und das von Grenzanlagen abgesicherte Brandenburger Tor. Nur von der Ostseite aus war die Quadriga von vorn zu besichtigen.
    Sie luden Robert und Reni und ihre Tochter Kati zu einem Abschiedsabend ein, und Lenz litt darunter, nichts sagen zu dürfen. Ein demütigendes Verhalten; wie schämte er sich dafür, Fröhlichkeit und Harmlosigkeit schauspielern zu müssen. Jedes Wörtchen, jede Andeutung von ihnen hätten Robert und Reni in Gefahr gebracht. Wer von solchen Fluchtabsichten wusste und sie nicht anzeigte, wurde wegen unterlassener Anzeige bestraft; Paragraph 225, man war zur Denunziation verpflichtet.
    Wie lange würde er Robert nicht wiedersehen? Der Bruder war vierzig, erst in fünfundzwanzig Jahren hätte er Aussicht auf eine Westreise. Einzige Alternative: ein Treffen im Ausland. Prag war ein beliebter Treffpunkt für geteilte Familien. Aber auch das würde in den nächsten Jahren noch zu riskant sein.
    Freunde und Bekannte durften ebenfalls nichts erfahren. Doch hätten Hannah und er etwas durchblicken lassen, wie hätten sie reagiert? Eine Frage, die Lenz sich oft stellte.
    Viele hätten Verständnis gezeigt – »uns steht’s ja auch bis hier«; manche hätten ihren »Mut« bewundert – »wir würden ja auch, aber wenn die Sache nun nicht klappt?«. Andere hätten traurig auf ihre alten oder kranken Eltern verwiesen, die sie nicht allein lassen konnten, und so mancher hätte wohl auch gesagt: »Für euch selbst dürft ihr riskieren, was ihr wollt. Denkt ihr aber auch an eure Kinder?« Eine Frage, die nur durch Gegenfragen zu beantworten gewesen wäre: »Denkt ihr denn an eure Kinder? Was wünscht ihr euch für sie? Wollt ihr, dass sie so leben, wie ihr und wir zuletzt gelebt haben, und dass sie eines Tages ebenfalls nur aus Furcht vor dem Risiko ausharren?«
    Was sie voneinander trennte, war ja nur der Schritt, den sie wagen wollten, oder die Größe des Krokodils, das ihnen im Nacken saß. Die Freunde kamen nicht aus dem Westen wie Hannah, hatten nicht die Erfahrung gemacht, wie es war, wenn man nicht von morgens bis abends gegängelt wurde oder einem die Kinder verbogen wurden. Und sie wollten nicht schreiben, litten nicht unter der Unmöglichkeit, sich frei äußern zu dürfen. Manche hatten sich aber wohl auch längst in diesem Doppelleben eingerichtet – Hintern im Osten, Kopf im Westen – und hielten bereits das Einschalten des Westfernsehens für eine Art inneren Widerstand. Die Toten an der Mauer? Irgendwie furchtbar, aber waren sie denn nicht selbst schuld? Gab ja nichts, was nicht gerade noch so auszuhalten war. Keine KZ, keine Massenmorde, keine hingerichteten Widerstandskämpfer, eben nur diese verfluchten Schüsse an der Mauer. Für Lenz aber bewies gerade diese Haltung perfektes Funktionieren: Solange du die Fäuste nur in der Hosentasche ballst, ist Verlass auf dich; solange du dein Dach über dem Kopf und den satten Bauch allem anderen vorziehst, bist du ein prima Staatsbürger.
    Einige wenige Freunde

Weitere Kostenlose Bücher