Krokodil im Nacken
einen ganzen Tag und noch eine Nacht lang würden sie mit dem Zug fahren! Und das durch viele fremde Länder. Und erst wenn die anderen Kinder längst in ihren Betten lagen, würden sie aufbrechen. In die Ferien. In die Sonne. Ans Meer. Das Leben war schön!
Nach dem Essen wanderten Hannah und Lenz durch alle Räume. Vor den Kindern taten sie, als müssten sie kontrollieren, ob auch alle Fenster fest verschlossen waren. In Wahrheit sahen sie sich um: Ihre Wohnungseinrichtung – zehn Jahre Arbeit! Der Fernseher, die Musiktruhe, Kühlschrank, Waschmaschine – alles große Anschaffungen, jedes Stück ein Sieg. Abgesehen von einem PKW, der sie nie sehr interessiert hatte, besaßen sie alles. Bald würden sie ganz von vorn anfangen müssen; sogar viele Bücher würden sie neu kaufen müssen; sie wollten doch auf ihre Lieblingsautoren nicht verzichten.
Hannah hatte noch mal alles geputzt. Irgendwann würde ihre Wohnung ja geöffnet werden – von der Polizei oder von der Stasi –, niemand sollte den Eindruck gewinnen, hier hätten Ferkel gehaust.
Lenz hatte ihr nicht geholfen. »Mir ist es egal, welchen Eindruck die von uns gewinnen. Mir reicht der, den ich von ihnen habe.«
Hannah jedoch war stur geblieben. »Bei anderen Leuten wäre es mir egal, bei denen nicht.«
Noch ein letzter Blick in die Runde, dann nahmen sie ihre Koffer und Taschen, verschlossen die Tür und wanderten zu viert zum S-Bahnhof Jannowitzbrücke.
Es war nur eine Station bis zum Ostbahnhof. Ihr Zug wartete schon.
Dritter Teil Eine Farce
1. Verteilte Rollen
D ie Riegel, der Schlüssel, der Graue stand in der Zelle. Über seinem Arm ein blauer Anzug, ein weißes Hemd, ein paar dunkle Strümpfe, ein blauer Schlips, in der einen Hand Lenz’ Schuhe. Lenz schluckte den letzten Bissen Marmeladenbrot hinunter, erhob sich von seinem Hocker und erstattete Meldung.
Der Graue: »Sie haben doch heute Verhandlung. In der Hose und dem Hemd, in denen Se hier eingeliefert wurden, können Se vor Gericht nicht erscheinen. Also ziehen Se das mal an. Das müsste Ihnen einigermaßen passen.«
Er legte alles auf die Pritsche; der Schlüssel, die Riegel. Lenz nahm noch einen Schluck von seiner Morgenlorke und zog sich um. Das Hemd war ihm etwas zu weit, Hose und Jacke waren zu eng und gut zwei Zentimeter zu kurz. Den Schlips übersah er; er wollte doch keine Schießbudenfigur abgeben.
Wenig später wurde er geholt. Ein Schließer, den er noch nicht kannte, Typ Teddybär mit Boxernase, betrat die Zelle und legte ihm Handschellen an.
»Muss das sein?«
»Muss.«
In diesem Anzug und mit den Händen in den Handschellen war es nicht leicht, Würde zu bewahren. Lenz bemühte sich trotzdem, hoch aufgerichtet den ihm nun schon vertrauten Weg zur Schleuse zu gehen.
Es war mal wieder der Fischlieferwagen, der bereitstand. Kaum hatte Lenz einen Fuß in den Wagen gesetzt, hustete er. Hannah hustete sofort zurück, hatte schon auf ihn gewartet. Wie gern hätte Lenz ihr jetzt gesagt, dass er sie liebe und sie dieses ganze Theater nicht ernst nehmen solle. Hoffentlich hatte er später noch Gelegenheit dazu.
Es ging in die Innenstadt, wie der immer dichter werdende Verkehr verriet. Lenz in seinem zu engen Anzug in dem zu engen Verschlag wunderte sich über sein heiteres Gefühl. Woher kam diese gute Laune? Lag es an dem ungewohnten Ausblick? Über seinem Kopf befand sich ein Schiebedach, einen schmalen Spalt weit war es geöffnet. Er konnte vorüberfliegende, noch kahle Baumäste erkennen und manchmal ein Dach oder oberes Stockwerk von einem der Mietshäuser, an denen sie vorüberfuhren. Einmal ratterte eine S-Bahn über sie hinweg. Die Bahnüberführung am S-Bahnhof Frankfurter Allee? Hier war er als Kind oft ausgestiegen, wenn er ins Theater der Freundschaft wollte, ins Jugendtheater. Tom Sawyer hatte er hier gesehen, Die verzauberten Brüder , Kästners Emil und viele andere Stücke. Hätte er sich damals vorstellen können, einmal nicht einer von Emils Detektiven, sondern der Mann mit dem steifen Hut, der Bösewicht vom Dienst zu sein?
Als der Wagen hielt und er aussteigen durfte, erkannte er das Stadtgericht Littenstraße. Ein stuckverziertes, imposantes Gebäude aus Kaisers Zeiten, an dem Kalle Kemnitz und er, wenn sie auf ihren Stadtwanderungen durch diese Gegend kamen, stets nur mit einem geheimen Schauder vorübergeschlichen waren. Eine Spuckweite davon entfernt: Die letzte Instanz , jene alte Kneipe, in der Hannah, Fränze und er auf ihre Flucht angestoßen
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