Krokodil im Nacken
Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht. Würde er das jetzt auch zu seiner Mutter sagen?
Frau Gottlieb wurde verlegen. »Vielleicht wundern Sie sich ja darüber, dass ich Ihnen, einem mir doch eigentlich völlig Fremden, dermaßen mein Herz ausschütte. Doch mit wem kann ich noch reden? Inzwischen lebe ich so allein, dass ich manchmal sogar vor meinem eigenen Schatten erschrecke.«
»Stellen Sie doch einen Reiseantrag. Sie sind ja nun Rentnerin. Vielleicht lässt man Sie ja raus – um sie loszuwerden.«
»Darüber hab ich schon nachgedacht.« Sie nickte versonnen. »Aber wissen Sie: Ich will gar nicht weg, will nicht, dass sie mich auf so leichte Art loswerden. Ihr schlechtes Gewissen soll sie quälen, wenn sie grußlos auf der Straße an mir vorübergehen. Mein Anblick soll sie erschrecken.«
»Aber drüben hätten sie Hanne – und wenn er mal heiratet, vielleicht sogar eine ganze Familie.«
»Nein!« Ihr Gesicht verhärtete sich. »Das Gespensterdasein hier ist mir wichtiger. Dieser dämliche Irrtum, irgendwie muss er zu Ende gelebt werden.«
Eines der vielen Schaufenster in der Schönhauser Allee, ein Laden mit Schallplatten und Notenheften. Lenz stand davor, die Aktentasche unter dem Arm. Er hatte sich geschämt, als Frau Gottlieb ihm vorwarf, sich so viele Jahre lang nicht nach Hanne erkundigt zu haben, jetzt wusste er, dass er genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen war. Jeder frühere Besuch wäre zu früh für Frau Gottliebs Geschichte gewesen. Im Ekel steckt Kraft; er hatte nach einer Bestätigung gesucht, er hatte sie gefunden.
Wie sollten Hannah und er denn jetzt noch zögern können? Hannahs Depressionen, Silkes Lehrer, der Frust im Betrieb, die Unmöglichkeit, sein Talent auszuprobieren, das alles wäre ja vielleicht noch auszuhalten gewesen – aber nicht diese Art, mit Menschen umzugehen.
Wer sagte ihnen denn, dass sie nicht eines Tages ebenfalls Schikanen ausgesetzt sein würden? Und Hannah und er standen nicht allein, sie hatten Kinder; das vergrößerte die Angriffsfläche beträchtlich.
Hanne Gottlieb hatte seine Mutter belogen, als er ihr sagte, sie müsse keine Angst um ihn haben. Als Journalist musste er wissen, dass der lange Arm der Stasi bis in den Westen reichte. Er wäre nicht der Erste, den sie sich geholt hätten. Dennoch machte er weiter, war er kein Existenzialist mehr, kam es für ihn nicht mehr nur jeden Tag darauf an, keinen Selbstmord zu begehen. Er war zum Aufklärer geworden, zu einem, der ein Ziel hatte und nicht mal davor zurückschreckte, die eigene Mutter zu gefährden. Weil er gar nicht anders konnte, als seine Wahrheit unter die Leute zu bringen!
Und er, Manfred Lenz, was war aus ihm geworden? Ein langweiliger Tintenverspritzer, der seine Texte versteckte, weil er davor bangte, dass sie gefunden wurden? Oder nur ein »kluger Mann«, der seiner Familie zuliebe nichts riskieren wollte?
Jene Silvesternacht, als sie zu dritt nach Oberspree aufbrachen, Hanne, Eddie und er. Wie Hanne schnell die Geduld verlor und allein durch die Nacht turnte, während Eddie und er ihr Kanu-Abenteuer erlebten. Später dann, in Amerika, bei seinem Vater – »dein Leben gefällt mir nicht«; Hanne hatte nie gezögert, wenn er bei einer Sache nicht länger mitmachen wollte …
Von der Schönhauser Allee bis zum Märkischen Museum hätte Lenz mit der U-Bahn fahren können, um nach Hause zu gelangen. An jenem Tag ging er lieber zu Fuß. Er brauchte Zeit, wusste: Diese Geschichte hatte die Entscheidung gebracht. Auch die Frage »Bin ich feige, wenn ich gehe, oder bin ich feige, wenn ich bleibe?«, jetzt war sie beantwortet. Frau Gottlieb wollte nicht gehen, weil sie mal dazugehört hatte; mit ihrem Bleiben bewies sie Mut, viel Mut, wenn vielleicht auch nur Trotz dahinter steckte. Hannah und er hatten nie richtig dazugehört, ihr Anblick machte niemandem ein schlechtes Gewissen; blieben sie, bewiesen sie damit nur Kleinmut.
Er stand noch in der Tür, da sah Hannah ihm seine Erlösung schon an. Als er ihr Monika Gottliebs Geschichte erzählte, weinte sie. Doch hatten ihre Tränen nichts mit Frau Gottliebs Schicksal zu tun; sie weinte, weil nun auch sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab. Gleich am nächsten Tag schrieb sie Fränze einen Brief und berichtete darin von Silkes hartnäckigem, diesmal ziemlich bösartigem Schnupfen; eine Erkältung, die einfach nicht weggehen wolle.
Zehn Tage später – so lange brauchte der Brief – Fränzes besorgter Anruf: Ob es Silke
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