Krokodil im Nacken
wieder in die Wirklichkeit zurück. Als der Zug dann endlich in Cottbus angelangt war und die Gefangenen, die ihren Bestimmungsort erreicht hatten, aussteigen durften und ihre steifen Glieder reckten, blickte er als Erstes zur Bahnhofsuhr hoch, die über ihnen durch die Nacht leuchtete. Schon nach halb drei – also hatten sie über fünf Stunden in diesen Karnickelkäfigen gesessen und die Strafgefangenen aus dem Norden noch länger!
Dettmers: »Sag mir, wie du mit deinen Strafgefangenen umgehst, und ich sage dir, ob du ein humanes Land bist.«
Pärchenweise an Handschellen angeschlossen, wurden sie über die Gleise geführt und in eine Minna verladen. In der führte mal wieder ein Profiganove das große Wort. Er sei schon mal in Cottbus eingefahren, hier sei es auszuhalten, prahlte er und nannte die Spitznamen einiger Strafvollzugsbeamter: Petrograd, Urian, Zitteraal, Berija, Salonbolschewist, Panzerplatte. Auf neugierige Nachfragen antwortete er, er wisse, wie man am besten mit denen klarkomme; gegen Tabak oder Zigaretten sei er zu Tipps bereit.
Nach nur wenigen Fahrminuten hielten sie in der Haftanstalt, einem dunklen, von ein paar müden Scheinwerfern angestrahlten roten Backsteinkomplex aus dem neunzehnten Jahrhundert. Durch einen trüben Gang ging es in eine große, gekalkte, mit metallenen Dreistockbetten voll gestellte Zugangszelle; Platz für sechzig Mann und kaum mehr als zehn Betten blieben frei.
Lenz erklomm eines der obersten Betten, warf seine Plastiktüte neben sich, rollte seinen Mantel zum Kopfkissen, streckte sich aus und dehnte sich. Nach der elend langen Zugfahrt in dem engen Verschlag eine Wohltat! Die Frage, wer alles die dumpf riechenden Matratzenteile unter ihm in den letzten zwanzig, dreißig Jahren abgehorcht hatte, verbot er sich; den Gestank nach Mottenkugeln und irgendwelchen scharfen Reinigungsmitteln, der diese Zelle erfüllte, ignorierte er.
Dettmers schwang sich in das Bett neben ihm. »Hab schon mal schöner logiert. Aber in dieser Zelle werden wir ja sicher nicht lange bleiben.«
Die meisten anderen drängte es erst einmal zur Toilette; zum Glück war sie hinter einer Holztür, einer Art Schamwand, verborgen. Einige kamen da ewig nicht runter, was die, die noch anstanden, wütend machte. Sie pochten gegen die Tür und drohten dem »Stundenscheißer«, ihn von dem begehrten Sitz zu reißen, wenn er sich nicht endlich beeile. Als einer die Tür zu lange offen stehen ließ, zog der Gestank durch den ganzen Raum; ein Witzbold schrie nach »Nasopax«.
Lenz wandte sich zu Dettmers um. »Willste ’n Witz hören?«
»Immer«, lautete die erfreute Antwort.
So erzählte Lenz in dieser Nacht Witze, Dettmers gab welche zum Besten, andere, darunter auch der von seinem humorlosen Staat mit Gefängnis bestrafte Ewald Tetjens, fielen ein. Gelächter gegen die Angst, Gelächter zum Mutmachen; solange sie noch so laut lachen konnten, lagen sie nicht am Boden.
Als am Morgen das Wecksignal ertönte, hatte Lenz keine zwanzig Minuten geschlafen. Bis hinter dem kleinen, vergitterten Fenster der Morgen graute, hatte er wach in der von den Ausdünstungen so vieler Gefangener und dichtem Zigarettenqualm erfüllten Zelle gelegen und an Hannah gedacht. Wie beruhigend, dass sie in Hohenschönhausen bleiben durfte; wie tröstlich, dass sie nicht mit Frauen wie den beiden aus dem Zug eine Zelle teilen musste!
Zwei Schließer kamen und trieben die in der Nacht eingetroffenen Gefangenen in einen Waschsaal. Im Schichtsystem durften sie sich frisch machen. Danach wurde Suppe verteilt, Brot und eine heiße, bräunliche Plärre, gegen die die Hohenschönhausener Morgenlorke türkischer Mokka war. Dettmers vermutete »Hängolin« in dem dumpf schmeckenden Gebräu: »Man will uns die Enthaltsamkeit erleichtern.«
Nach dem Frühstück hieß es warten. Alle halbe Stunde wurde die Tür geöffnet, und ein Strafvollzugsbeamter mit dem Dienstgrad Unterleutnant, ein großer, schon etwas älterer, verwittert aussehender Klotz mit sturem Gesicht, rief ein paar Namen auf und befahl jedes Mal einsilbig: »Mitkommen! Mit allen Utensilien.« Petrograd war sein Spitzname; sie hatten schon in der Minna von ihm erzählt bekommen. Lenz musste an die russischen Filme denken, in denen die Revolutionsstadt Petrograd eine so gewichtige Rolle spielte. Nach Revolution sah dieser Petrograd nicht aus, wohl aber nach Maschinengewehr, Stumpfsinn und miefigem Soldatentum; ein passender Name.
»Wer spurt, kommt mit ihm aus«,
Weitere Kostenlose Bücher