Krokodil im Nacken
D- oder Personenzuges gehängt und jeweils nur nach Einbruch der Dunkelheit auf die Reise geschickt wurden. Dieser »Express« werde durch die ganze Republik rumpeln und schuckeln, von Knast zu Knast, und auf vielen Bahnhöfen stundenlang warten, um erneut an einen der regulären Züge angekoppelt zu werden. Ein sehr kostensparendes Verfahren, aber für die in diesen Waggons zusammengepferchten Häftlinge kein Vergnügen. Am Tage würden die voll besetzten Waggons nämlich manchmal auf irgendwelchen Nebengleisen abgestellt, und dann hocke man da drin, im Sommer bei glühender Hitze, im Winter bei eisiger Kälte, und könne sich nicht mal bewegen.
Einige der politischen Häftlinge machten besorgte Gesichter, der Witzeerzähler Ewald Tetjens flachste nur: »Na und? Je enger, desto wärmer!«, und bot allen an, mit ihm den Verschlag zu teilen. »Da habt ihr mehr Platz.« Sagte es und wackelte mit seinem Armstumpf.
Kaum hatten sie die beiden mit ihren Milchglasfenstern an Postwagen erinnernden Waggons erreicht, da ging schon das Gerücht durch die Reihen, dass der erste Waggon bereits mit Häftlingen aus dem Norden der Republik überfüllt sei. Also würde es mehr als nur eng werden; jetzt verging sogar Ewald Tetjens das Witzeln.
Sie durften dann auch tatsächlich nur den hinteren Waggon besteigen. Die Handschellen wurden ihnen abgenommen, ein langer, tiefblau erleuchteter Gang, in dem kaum etwas zu erkennen war, empfing sie. Links und rechts klafften offene Holztüren, dahinter befanden sich hölzerne Verschläge mit Sitzbänken, die jeweils zwei Gefangenen Platz boten. Und was wegen der Milchglasscheiben von außen nicht zu erkennen gewesen war – vor den Fenstern befanden sich Gitter.
Dettmers und Lenz gelang es, auch hier zusammenzubleiben, bald aber wurde noch ein dritter Gefangener in ihren Verschlag geschoben. Die Luft wurde knapp.
Dettmers bemühte sich, nicht den Humor zu verlieren. Höflich stellte er sich dem Neuankömmling vor: »Detlef Dettmers, Berlin, illegaler Grenzübertritt, zwei Jahre, zehn Monate.«
Auch Lenz nickte dem jungen Burschen mit dem breiten, narbigen Gesicht und dem schon recht lichten Haar freundlich zu. »Manfred Lenz. In allem anderen: dito.«
Verlegen murmelte der Bursche seinen Namen – »Roman Brandt« –, fügte aber gleich hinzu: »Über meine Sache spreche ich nicht.«
»Musste auch nicht.« Dettmers, in der Mitte sitzend, machte sich noch schmaler, als er ohnehin war. »Aber wohin der Herr zu reisen beliebt, das wird er uns doch wenigstens mitteilen?«
»Cottbus.«
»Na, dann werden wir uns ja noch öfter sehen.«
Der Zug ruckte an, die Fahrt durch die Nacht begann. Sie merkten es bald: Dieser »Express« war wirklich kein Express. An jeder Station hielt er und auch zwischen den Stationen blieb er öfter stehen. Wütende Proteste wurden laut. Zu dritt war es viel zu eng in den fest verschlossenen Zellen und natürlich war das Rauchen verboten. Wer sollte das aushalten, eine ganze Nacht lang?
Dettmers begann seine immer währende gute Laune zu verlieren: »Dem dialektischen Materialismus zufolge löst sich die Kriminalität im Sozialismus in nichts auf, weil sie ja nur durch den Kapitalismus erzeugt wird. Auf gut Deutsch heißt das: In einem Paradies wie dem unseren muss niemand mehr kriminell werden. Und wie ist es in Wahrheit? Nicht mal die Transportmöglichkeiten reichen aus, um alle Sünder in den Knast zu bringen.«
Lenz antwortete nichts, studierte nur die in die Holzwände gekratzten Zeichnungen und Inschriften: zwei hoch erhobene Hände in Handschellen, die eine Rose hielten, ein Sonnenaufgang, der in das Wort FREIHEIT überging, Sprüche wie Alles ist vergänglich, auch das längste Lebenslänglich und Durch Nacht zum Licht .
Durch die Nacht fuhren sie, aber ob ihnen in Cottbus ein Licht leuchtete?
»Kennst du nicht wenigstens ein paar Witze?«, wandte Dettmers sich an Roman Brandt. Der aber schüttelte nur den Kopf und schloss die Augen, wie um für sich allein zu sein.
Eine endlose Fahrt! Bald tat ihnen alles weh, Hintern, Arme, Beine, Rücken. Lenz versuchte, sich fortzuträumen, an Hannah zu denken, Silke, Michael; es gelang ihm immer nur für kurze Zeit. Das Johlen aus den anderen Verschlägen, wenn eine der beiden Frauen sich zur Toilette meldete, der schwitzende und, seit er die Augen geschlossen hielt, hin und wieder ängstlich keuchende Roman Brandt und Dettmers Bemühungen, seinen inneren Ofen nicht ausgehen zu lassen – all das riss ihn immer
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