Krokodil im Nacken
Päckchen und die doppelte Menge Zigarettenpapier.
Sie putzten bis weit nach Mitternacht, dann schloss die Lachtaube, ein junger, ewig lächelnder, doch ein wenig heimtückischer Schließer, sie in ihre Zelle zurück. Da sie kein Mittagessen und kein Abendbrot bekommen hatten, stürzten sie als Erstes an die Wasserleitung und kramten danach die Reste ihrer Lebensmitteleinkäufe aus den Spinden. Auch der letzte Krümel wurde solidarisch geteilt. Der schweigsame Chirurg, der geschwätzige Malergeselle, der zukünftige Dichterfürst, der verschämte Bauinstallateur, der politisch eher rechte Elektroingenieur und der politisch eher linke Ökonom für Medizintechnik, für den Moment waren sie eine Gemeinschaft. Sie hatten gesiegt – auch über sich selbst –, sie konnten zufrieden sein.
Erst als sie schon in ihren Betten lagen, witzelte Karrandasch: »Wenn mal wieder einer schreien muss, bitte vorher anmelden! Damit wir ihm rechtzeitig ein Kissen in den Schlund stopfen können.«
Lenz sagte nur: »Einverstanden.«
Berijas Niederlage sprach sich herum. Die Essenkalfaktoren hatten von seiner Strafaktion gegen die 218 berichtet; dass der Ausgang der Sache publik wurde, dafür sorgten Karrandasch und Moll. Eine Solidaritätsaktion unter Häftlingen? So etwas kam an.
Bald wurde immer öfter aus den Fenstern gerufen: »Geh scheißen, Urian! Du hast so dicke Augen.« – »Petrograd macht Seele hart!« – »Für ’n Oppel und ’n Ei sind wir überall dabei!« Die Strafvollzugsbeamten rasten, aber was konnten sie tun, solange die Schreihälse nicht zu erwischen waren? Nur keine erneute Blamage.
Sie baute Frust ab, diese einzige Möglichkeit, den Mund aufzumachen, ohne eine Strafe befürchten zu müssen. Und sie machte Mut zu weitergehenden Aktionen. So kam es Mitte August zu einem Protestmarsch, an dem der gesamte Erziehungsbereich IV beteiligt war.
Vorausgegangen war eine Weigerung Stracks’. Petrograd hatte ihm befohlen, eine weggeworfene Zigarettenkippe aufzuheben, und Stracks hatte das abgelehnt. Es war nicht seine Kippe.
Petrograd: »Das spielt keine Rolle. Heben Se die Kippe auf.«
Stracks: »Und ob das ’ne Rolle spielt! Bin politischer Gefangener und nicht von der Müllabfuhr.«
Petrograd: »Bei uns gibt’s keine politischen Gefangenen. Heben Se die Kippe auf.«
Stracks: »Heb se doch selber auf, wenn du was zu rauchen brauchst.«
Wie Stracks später berichtete, wollte Petrograd zuerst nur mit dem Schlüsselbund zuschlagen, doch dann überlegte er es sich anders und rief zwei Kollegen zu Hilfe. Zu dritt zerrten sie Stracks unter die Dusche und ketteten ihn mit Handschellen dort an. Eine ihrer beliebten Kneippkuren; eiskaltes Wasser sollte den Hitzkopf Stracks abkühlen. Stracks lachte nur, doch erkältete er sich während dieser Tortur. Ein Kassiber, aus dem Arrestkeller in die 220 zu seinem Spanner Braun hochgeschickt, berichtete von Kopf- und Gliederschmerzen und Fieberanfällen. Eri Braun befürchtete sogleich eine Lungenentzündung und sorgte dafür, dass Tag für Tag aus den verschiedenen Zellen Brot, Marmelade und Dosenwurst zu Stracks hinuntergependelt wurde, denn Leutnant Oppel hatte als Zusatzstrafe verfügt, dass Stracks anstatt der ihm zustehenden zweihundertfünfzig Gramm Brot pro Tag nur zweihundert in die Zelle gereicht werden durften. Allein mit Lebensmitteln jedoch war eine Lungenentzündung, wenn es denn eine war, nicht zu kurieren. Also meldete Braun sich bei Oppel an. Der wiegelte ab: Stracks habe sich die Arreststrafe selbst zuzuschreiben; außerdem sei von einer Erkrankung nichts zu bemerken, einen Schnupfen habe schließlich jeder mal. Und überhaupt, woher wolle denn er, Braun, von dieser Erkrankung wissen? »Hat Ihnen der Wind ein Lied erzählt?« Er lachte und verabschiedete Eri mit der Mahnung: »Die eigene Schuld erkennen, das ist es, woran Sie arbeiten müssen. Und da haben Ihr Freund Stracks und Sie noch erhebliche Defizite.«
Eri aber gab nicht auf. Es ging durch alle Zellen: Wenn wir morgen zur Arbeit marschieren – langsam gehen, Trippelschritte machen! Wenn sie rotieren – stur bleiben! So lange, bis sie fragen, was los ist. Dann einen Arzt für Stracks fordern.
Lenz fand Stracks’ Verhalten ausgesprochen dämlich. Sich wegen einer Zigarettenkippe drei Wochen verschärften Arrest einfangen! Ja, auch er hatte Mist gebaut, als er sich mit Berija anlegte. In seinem Fall aber handelte es sich um einen Ausraster, Stracks provozierte bewusst, wollte die
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