Krokodil im Nacken
interessierte es sie, was die drei unternehmungslustigen Schüler aus der Kaiserzeit, die sich so zu der freizügigen Künstlerin Fröhlich hingezogen fühlten, mit ihrem ebenfalls in die Fröhlich verliebten Pauker alles anstellten. Als er fertig war, nickte Brandt: »Die Geschichte kenn ich. Da gibt’s ’nen alten Film, den hab ich im Fernsehen gesehen. Mit Marlene Dietrich.«
Ein Anstoß, umzuschwenken und Marlene-Dietrich-Filme zu erzählen. Nach dem fünften, sechsten breit ausgewalzten Hollywood-Streifen, mitten in Karrandaschs Zeugin der Anklage , kam Berija den Flur herunter, blieb vor ihnen stehen und stemmte die Arme in die Seiten. »Na? Hat man nachgedacht?«
Lenz hob die Hand.
Berijas Augen glommen auf. »Sie also! Na war…«
Lenz: »Wieso ich? Ich wollte nur eine Meldung machen.«
»Na dann heraus mit der Sprache: Wer war’s?«
»Niemand war’s! Ich möchte nur melden, dass der Strafgefangene Hausmann einen Bandscheibenschaden hat. Er darf nicht so lange stehen.«
»Und wieso meldet er das nicht selbst? Sind Sie sein Adjudant?«
Hausmann, verlegen: »Das wollte ich ja gerade tun.«
Berija, enttäuscht und zornig: »Na, dann geh’n Se doch zum Sanitäter, Herr Sanitäter. Aber bitte nicht heute, heute ist Sonntag, da hat unser Doktor keinen Dienst, da beschimpft er Strafvollzugsbeamte oder deckt den, der’s war.«
Hausmann: »Aus unserer Zelle hat niemand gerufen.«
»So? Niemand? Na, dann schöne Grüße an Ihre Bandscheibe und den feigen Herrn Niemand.« Noch ein hasserfüllter Blick, dann ging er wieder, der Unterleutnant Berija.
Moll: »Hab auf seine Uhr geschaut. Jetzt steh’n wir schon seit zwei Stunden.«
Karrandasch: »Mein Film war noch nicht zu Ende.« Mit seligem Blick schilderte er, wie die Dietrich als Zeugin durch raffinierte Falschaussagen ihren Liebhaber rettet, von dessen Verrat an ihrer Liebe erfährt und ihn am Ende niederschießt. »Und dann Charles Laughton, der diesen wunderbaren Strafverteidiger gibt und nun bereit ist, auch sie zu verteidigen …«
Die Kalfaktoren kamen, das Mittagessen wurde ausgeteilt. Berija begleitete sie, öffnete und verschloss die Zellentüren und verkündete laut, dass die 218 an der Mittagsmahlzeit nicht teilnehmen werde.
Als wieder Ruhe im Flur war, erzählten sie weiter Filme. Alle möglichen Filme. Irgendwann wollte Wiegand dann nur noch lachen und begann die schlimmsten Defa -Politschinken zu erzählen.
Einen davon hatten sie erst kurz zuvor sehen dürfen, einen Streifen über Karl Liebknecht. Als im Film ein Reichswehroffizier sagte: »Wir wollen die Hauptstadt von den Kommunisten befreien«, war unter den Strafgefangenen Jubel ausgebrochen. Die Schließer rotierten, der Film wurde angehalten, das Licht ging an: Wenn nicht sofort Ruhe herrsche, gebe es das nächste halbe Jahr lang keine Filmvorführung. Es wurde trotzdem weitergelacht: Wir wollen die Hauptstadt von den Kommunisten befreien! Welch passender Satz für ihre Situation! Und am längsten und lautesten lachte Alfred Karp, ein etwa fünfzigjähriger Bauschlosser, der wegen eben dieses Films in Cottbus einsaß. Er hatte in einem Kino laut von Geschichtsverfälschung gesprochen, ohne zu wissen, dass manchmal Stasi-Leute in solche Filme gingen, um zu überprüfen, wie diese Art Agitation beim Publikum ankam. Anderthalb Jahre hatten sie Karp für seine Lästerzunge aufgebrummt, staatsfeindliche Hetze und Aufwiegelung zur Konterrevolution waren ihm vorgeworfen worden. Und jetzt? Jetzt sah er im Knast den Film, der ihn hier hereingebracht hatte, noch einmal und durfte lästern und schimpfen, so viel er wollte, weil ihm ja nicht mehr viel passieren konnte; er saß ja schon drin in der Scheiße.
Sie lachten noch einmal über diese »Arbeiterklassenoperette« und den vor Genugtuung ganz hippeligen Karp, dann musste Hausmann eingestehen: »Jetzt geht’s nicht mehr.«
Sofort bot Lenz ihm an, Berija beim nächsten Mal seine Schandtat einzugestehen. Wiegand war damit nicht einverstanden: »Wir machen uns ja vor uns selbst lächerlich, wenn wir jetzt klein beigeben. Außerdem nimmt er uns anderen dann übel, dass wir dich nicht denunziert haben. Dein Opfer wird zum Bumerang.«
Karrandasch riet Hausmann, sich doch einfach ein bisschen hinzulegen. »Sieht dich ja niemand.«
Doch, einer sah ihn: Roman Brandt. Sie blickten Brandt an, und er wurde rot: Hatte er denn bisher nicht geschwiegen? Und das, obwohl er Brigadier und damit eine Vertrauensperson der Strafvollzugsbeamten war
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