Krokodil im Nacken
andauernde Fortgegangen-aber-noch-nirgendwo-angekommen-Sein. Bald hatten Hannah und er ihr erstes Jahr herum. Und die Kinder ihres. In wenigen Tagen war Schulbeginn, dann wurde Micha eingeschult … Und Silke kam nun schon in die vierte Klasse …
Um sich abzulenken, ließ er sich immer wieder von schönen Zukunftsträumen in die Arme nehmen, egal, ob er mit hoch gekrempelten Hosenbeinen und nacktem Oberkörper auf dem Fenstersims der 218 saß, die Beine durchs Gitter gestreckt, den Kopf in der Sonne, oder ob er in seiner Bude saß und Arbeitsaufträge ausschrieb: Hannah, Silke, Micha und er, wie sie über eine Wiese spazierten, an einem Bergsee lagen; auf dem Heimweg Kühe, Pferde, Schafe, die Kinder stellten Fragen, sie erzählten viel … Oder Hannah und er allein auf einer einsamen Waldlichtung, wie sie sich liebten und anlächelten und wieder liebten.
Silly und Micha waren endlich gemeinsam in einem Heim untergebracht; Hannah hatte es ihm geschrieben. Die einzige gute Nachricht der letzten Monate. Doch eine mit bitterem Beigeschmack: Das Heim lag am S-Bahnhof Greifswalder Straße; in der Gegend, in der seine Freunde und er als Kinder einst Mutproben ablegten, immer neben den S-Bahn-Schienen her.
Dachte Lenz an Hannah, dachte er oft auch an ihren Vater: Wie ironisch das Leben doch sein konnte! Weil einst der Vater nicht sitzen wollte, saß nun die Tochter – während der Vater sich sicher mal wieder mit einem »Selber-schuld« tröstete … Ach, Hannah! Wenn er doch nur endlich mal mit ihr über alles reden könnte – richtig reden, ohne Zensor am Tisch. Dann könnte er ihr vielleicht wirklich Mut machen – und damit auch sich selbst.
Eines späten Vormittags sollte Lenz’ Unruhe dann noch verstärkt werden – Leutnant Oppel holte ihn aus seiner Arbeitsbude: »Sie haben Besuch.«
Lenz folgte ihm nur zögernd. Wer sollte ihn denn hier besuchen? Hannah? Aber einen solchen Besuch hätte sie lange zuvor beantragen müssen und ganz sicher hätte sie ihm den vorher mitgeteilt. War ja auch noch viel zu früh für einen weiteren Sprecher, erst im Oktober, ein halbes Jahr nach dem letzten, hätten Hannah oder er eine neue Sprecherlaubnis beantragen können. War Robert gekommen? Kaum anzunehmen; der Bruder würde nicht extra einen Tag Urlaub nehmen und bis nach Cottbus reisen, nur um ihm zwanzig Minuten gegenübersitzen zu dürfen.
Wer ihm dann erwartungsvoll entgegensah, als er den kahlen Raum gleich neben dem Eingangstor betrat, in dem es außer einem Tisch und ein paar Stühlen unter dem Honecker-Foto nichts gab, wohin der Blick sich flüchten konnte? Eine Abordnung aus dem VEB Haushaltselektrik ; Parteisekretär und Kaderleiterin höchstpersönlich.
Nur ein halbes Jahr hatte Lenz in diesem Betrieb gearbeitet; sein Fluchtpunkt, als er von intermed fortging. Es hatte dort ein paar nette Kollegen gegeben, richtig warm geworden aber war er in diesen sechs Monaten, in denen Hannah und ihn ganz andere Sorgen plagten, mit niemandem. Die da jetzt gekommen waren – Johannes Fahrland von der Partei, ein dicker, rotnasiger Mann im weiten, grauen Anzug, und Ida Kowalek, die Kadertante, eine kleine, von vielen Krankheiten gezeichnete, lebenstüchtige Person im blauen Strickkostüm –, diese beiden, die ihn nun so vorwurfsvoll anschauten wie ein besorgtes Elternpaar den schwer erziehbaren Sohn, wegen dem sie zur Schule bestellt worden waren, hatte er nie richtig kennen gelernt. Jetzt jedoch waren sie gekommen, um ihm zu zeigen, dass sie sich um ihre Mitarbeiter kümmerten. Sogar um solche Gestrauchelten wie Manfred Lenz. Sie wollten ihm helfen, wieder aufzustehen und einen geraden Weg einzuschlagen. Von seiner Wiedereingliederung in den Betrieb redeten sie, von dem Unrecht, das er begangen, von der Schuld, die er auf sich geladen, und der leider notwendigen Strafe, die er einzusehen und zu akzeptieren habe.
Ein letzter Versuch, ihn – und damit die Kinder – hier behalten zu können? Hatte die Stasi die beiden geschickt? Lenz hatte gehofft, dass man Hannah und ihn inzwischen längst abgeschrieben hatte. Unter Verluste verbucht. So dass ihrer Ausreise nichts mehr im Wege stand, wenn die Transporte endlich losgingen. Nun dieser Besuch. Wie sollte er den verstehen? Auf jeden Fall musste er auf der Hut sein; Leutnant Oppel, der jedes Wort, das gewechselt wurde, mitverfolgte, würde ja über dieses Gespräch berichten. Vielleicht wurde, was hier geredet wurde, auch aufgezeichnet. Wie sollte er wissen, ob nicht ein
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