Krokodil im Nacken
geblieben? Was hatte das zu bedeuten? Ein Anzeichen totaler Hoffnungslosigkeit? Vielleicht hatten sie sich ja in einen ganz und gar unbegründeten Optimismus hineingesteigert, und die Transporte würden erst kurz vor Weihnachten wieder losgehen, sozusagen als humane Geste?
Das Für und Wider eines solchermaßen gebremsten Optimismus wurde erörtert, und Witze wurden gerissen, um erst gar keine trübe Stimmung aufkommen zu lassen, als mit einem Mal auf der anderen Seite der etwa zwei Meter fünfzig hohen Holzwand, die die Werkzeugmacherei von einem anderen Arbeitsraum trennte, Lenz’ Name fiel.
Sie verstummten und lauschten und hörten erneut Petrograds Stimme: »Wenn Se den Lenz sehn, schicken Se’n zu mir. Sagen Se ihm, er soll ’n bisschen Tempo machen.«
Hatte Petrograd in seiner Bude nach ihm geschaut und ihn nicht gefunden? Und nun suchte er ihn überall? Um sich einen Spaß zu machen, bestieg Lenz einen der Arbeitstische und blickte über die Trennwand. »Was gibt’s denn so Eiliges?«
Wütend starrte Petrograd zu ihm hoch. »Runter da!«
»Ich dachte, ich soll Tempo machen. Schneller ging’s doch gar nicht.« Grinsend stieg Lenz vom Tisch.
Zwei Sekunden später stand Petrograd vor ihm. »Strafgefangener Lenz! Packen Sie Ihre Sachen. Sie gehn auf Transport.«
Transporte konnten nach überallhin abgehen, Lenz aber war sofort klar, um welche Art von Transport es sich handelte. Und Petrograd ahnte es auch. Deshalb dieser übertriebene Zorn … Doch was empfand der Strafgefangene Lenz in jenem Augenblick? Durchzuckte ihn ein Blitz? Schäumte Jubel in ihm auf? Schnürte es ihm vor Freude die Kehle zu? – Nichts von alledem! Er wusste Bescheid, doch wagte er nicht, seinem Gefühl zu trauen. »Wo … Wo geht’s denn hin?«, fragte er nur heiser.
»Das werden Se schon noch sehn.«
Die Werkzeugmacher drängten sich um Lenz, umarmten ihn. Auch sie ahnten, wohin es ging, auch sie hatten Schwierigkeiten, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen. Wenn es endlich wieder losging, verdammt noch mal, waren ja auch ihre Tage hier gezählt. »Grüß schön von uns. Sag, wir kommen auch bald.«
Es ging in die 218, Lenz’ Schrank ausräumen, und in die 315, eine leere Zwölferzelle. Doch blieb Lenz nicht lange allein mit den vier Dreistockbetten; alle paar Minuten ging die Tür und ein weiterer Strafgefangener wurde gebracht. Alles Ausreisekandidaten, alle – bis auf eine einzige Ausnahme – Mandanten Dr. Vogels. Der Letzte, der grinsend in der Tür stand, war Detlef Dettmers. Petrograd hatte ihn aus dem Arrest holen müssen. Grund für Dettmers Bestrafung: Er hatte Petrograd, der Dettmers vom Tag seiner Ankunft an wie einen Bombenleger verfolgte, einen polternden Idioten genannt. Wie schön, dass ausgerechnet Petrograd heute Dienst hatte und seinen Intimfeind höchstpersönlich aus dem Keller holen musste!
Lenz musste über Dettmers Ankunft lachen: So würden der lange Student und er also auch den letzten Teil ihrer Reise von Burgas über Sofia, Hohenschönhausen, Rummelsburg, Cottbus und nun sicher auch Karl-Marx-Stadt bis hin ins Notaufnahmelager Gießen gemeinsam zu Ende bringen? Wie zwei Fußballer wenige Sekunden nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft lagen sie einander in den Armen. Sie hatten es geschafft, hatten es tatsächlich geschafft!
Natürlich wurde in dieser Nacht nicht geschlafen. Immer wieder trat einer von ihnen ans Gitter, um zur Effektenkammer hinüberzuschauen. Dort brannte bis in die frühen Morgenstunden Licht, wurde alles für ihren Transport vorbereitet, ganz so, wie Eri Braun es beschrieben hatte.
Und auch in den anderen Zellen wollte keine Ruhe einkehren. Letzte Botschaften an die ehemaligen Zellengenossen wurden in die 315 gependelt; ein summendes Bienenhaus war sie, die Strafvollzugsanstalt Cottbus in jener warmen Augustnacht, wussten nun doch alle, dass er wieder losging, der so dringlich herbeigesehnte Ausverkauf all derer, die ihre Heimat verlassen wollten.
Am Morgen darauf, gleich nach dem Frühstück, ging es in die Minna. Dauerte die Fahrt lange, dauerte sie nicht lange? Was interessierte das jetzt noch! Lenz vertrieb sich und den anderen die Zeit, indem er ihnen von Hajo Hahne erzählte, seinem Hohenschönhausener Glückstreffer. Was hätte er getan, wie hätte er diese Zeit überstehen sollen, hätte er sich nicht an Hahnes Prophezeiungen klammern können?
»Vielleicht wusste er nur deshalb so viel, weil er irgendwie dazugehört hat zu diesem Gangsterverein«, vermutete Uli
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