Krokodil im Nacken
Ziesel, ein dicklicher Häftling mit braunem Haarkranz. Ziesel kam aus einem anderen Erziehungsbereich und war der Einzige von ihnen, der nicht durch Dr. Vogel vertreten wurde. Er habe nur deshalb einen Ausreiseantrag gestellt, weil er seine viereinhalb Jahre wegen staatsfeindlicher Hetze im verschärften Fall nicht absitzen wollte, hatte er erzählt.
Ziesels Verdacht lag nahe. Lenz selbst hatte Hahne verdächtigt, ein Zellenspitzel zu sein. Jetzt glaubte er das nicht mehr. Aus welchem Grund sollte ein Stasi-Mitarbeiter Häftlingen solch ermutigende Geschichten erzählen? Vielleicht war ja auch dieser Zieselpiesel nicht echt. So etwas sollte es ja geben: Stasi-Kundschafter, die mit einem großen Transport und einer dicken Vorstrafe in den Papieren in den Westen geschickt wurden, um den Sozialismus an der unsichtbaren Front zu verteidigen. – Alles war möglich in diesem verrückten, zweigeteilten Land, nichts durften sie ausschließen. Und weil das so war, würden sie sich ganz sicher auch zukünftig gegenseitig verdächtigen. Eine Mitgift der Stasi-Genossen – dem ewigen Misstrauen würde so schnell keiner entkommen.
Sie durften aussteigen und befanden sich in einem Gefängnishof. Die Männer, die sie in Empfang nahmen, trugen Stasi-Uniformen und sächselten. »Gomm Se! Gomm Se! Gomm Se!«
Alles klar: Das war »Chemnitz«, wie die Cottbuser Häftlinge die Stadt, die Anfang der fünfziger Jahre in Karl-Marx-Stadt umbenannt worden war, aus reinem Spaß an der Provokation zurückgetauft hatten. Sie hielten Einzug in das Stasi-Gefängnis auf dem Kaßberg.
Lenz und Dettmers bemühten sich, eine gemeinsame Zweierzelle zu beziehen, und hatten mal wieder Glück. Es interessierte die Stasi nicht mehr, wer von ihnen mit wem auf einer Zelle lag.
Ein altes, aber frisch renoviertes und auf Stasi-Niveau getrimmtes Gebäude; alles sehr sauber, hell und perfekt abgesichert. Dettmers auf seiner Pritsche konnte seine Vorfreude nicht länger zügeln. Er wälzte sich hin und her und grinste jedes Mal, wenn er Lenz anblickte, breiter. »Ticktack macht die Uhr, ticktack – und beim letzten Tack sind wir weg!«
Lenz quälte die Frage, was mit Hannah war. Als Petrograd ihn aus der Werkzeugmacherei weggeholt hatte, die ganze Nacht und die gesamte Fahrt über war er überzeugt, dass Hannah ebenfalls auf Transport gegangen war, sie also gemeinsam ausreisen würden. Sie gehörten zusammen, hatten die gleiche Strafe erhalten, weshalb sollten Unterschiede gemacht werden? Jetzt war er sich dessen nicht mehr so sicher. Der Stasi war alles zuzutrauen. Was, wenn er in den Westen entlassen wurde und Hannah weiter ihre Strafe absitzen musste, weil sie erst für einen späteren Transport vorgesehen war?
Und Silke und Micha? Wo wollte man die denn hier unterbringen? Sie konnten die Kinder doch nicht in eine Zelle sperren. Gab es hier so etwas wie ein Stasi-Kinderhotel?
Ein Abend, eine Nacht im Fieber. Lenz hätte nicht schlafen können, hätte ihm die letzte, durchwachte Nacht nicht noch in den Knochen gesteckt. Alpträume quälten ihn; als er lange vor dem Wecken erwachte, war er schweißgebadet. Beim Frühstück verriet er Dettmers seine Sorgen und – besser, es irrt sich, wer Schlimmes befürchtet – ließ sich willig Mut machen: »Deine Frau ist längst hier. Und wenn nicht, kommt sie bald nach. Das verläuft hier alles ganz bürokratisch. Und das mit den Kindern werden sie dank ihrer langjährigen Erfahrung auch irgendwie geregelt haben.«
Nach dem Frühstück kam Unruhe in den Bau, Riegel klirrten, Schlüssel rasselten. Die neu eingetroffenen Gefangenen wurden geholt. Wohin? Zu Vernehmungen? Um ihre Effekten in Empfang zu nehmen?
Es wurden sehr viele Zellentüren geöffnet und wieder geschlossen. Offensichtlich waren sie, die Cottbuser, nicht die einzigen Ausreisekandidaten, die hierher verlegt worden waren. Ein Gedanke, der Lenz ein wenig beruhigte. Je mehr Gefangene hier waren, desto größer die Chance, dass Hannah und die Kinder mit ausreisen durften.
Als dann endlich auch er geholt wurde, führte man ihn in einen kahlen, bis auf einen Tisch und zwei Stühle unmöblierten Raum. Ein Major in der Uniform des Ministeriums für Staatssicherheit begrüßte ihn freundlich, bat ihn Platz zu nehmen, blätterte in seinen Akten.
»Sie haben die Ausreise in die BRD beantragt?«
»Ja.«
»Sie ist genehmigt worden. Wenn Sie hier bitte unterschreiben wollen.«
Der Major schob ein bereits ausgefülltes Formular über den Tisch, Lenz
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