Krokodil im Nacken
Wildschwein zu sein.
Jetzt konnte er über diesen Witz nicht mehr lachen, er war Wahrheit geworden: Wer Wildschwein war und wer Hase, wer Spion war und wer nicht, bestimmte ganz allein die Stasi.
Sie hatten keine Chance! Die würden sie bestrafen, wie sie wollten; keiner, der ihnen dreinreden, niemand, der Hannah und ihm helfen konnte. Deshalb hatte er am Schluss der Vernehmung auch dieses Protokoll unterzeichnet, zehn oder zwölf DIN-A4-Seiten, alle vom Leutnant mit der Hand geschrieben. Wenn ihm vom vielen Mitschreiben seine Pfote wehtat, hatte er sie neben dem Schreibtisch ausgeschüttelt. Er aber hatte dieses Scheißprotokoll unterschrieben, obwohl vieles, was sich im Gespräch ganz harmlos angehört hatte, im Stasi-Deutsch zum kriminellen Tatbestand wurde. Nur anfangs hatte er dagegen protestiert, dass ihm Worte in den Mund gelegt wurden, die er gar nicht gesagt hatte. Später hatte er es aufgegeben, um jede zweite, dritte Formulierung, die ja an der Sachlage nichts änderte, zu feilschen. Sollten sie seine Aussagen doch manipulieren, sollten sie ihn zu einem mit kriminellen Energien aufgeladenen Ungetüm aufblasen, was bedeutete das schon gegen die Androhung, die Behörden könnten ihnen die Kinder wegnehmen … Vielleicht ja nur ein Versuch, ihn endgültig zu demoralisieren, aber was, wenn nicht? Was könnten Hannah und er gegen dieses Kidnapping unternehmen? Wo könnten sie Einspruch erheben? Wer kontrollierte die Kontrolleure?
Die Riegel, der Schlüssel, der Marsmann stand in der Tür. »Is was?«
»Nein, danke! Mir geht’s bestens.«
Er ging noch nicht, der junge Mann mit den Vulkanen und Vulkänchen im Gesicht, die inzwischen so reif waren, dass Lenz bei jeder Gesichtsbewegung des Feldwebels befürchtete, sie würden eruptieren. »Sie haben ja gar nichts gegessen.« Er wies auf die Margarinebrote, die sich inzwischen vor Trockenheit bogen.
Sollte Lenz ihn anschreien, wer nicht scheißen könne, könne auch nicht ewig fressen? Sollte er ihm verraten, dass es in diesem Haus Dinge gab, die einem jeden Hunger nahmen? Aber wozu den Hund schlagen, wenn das Herrchen einen gebissen hatte? »Danke der Nachfrage! Kein Appetit.«
»Na, vielleicht kommt der ja noch.« Ein letzter, musternder Blick, dann flog die Tür wieder zu, der Schlüssel, der obere Riegel, der untere. Lenz blickte noch einen Moment lang die Tür an, dann legte er sich wieder hin.
Hinter den Glasziegelsteinen dämmerte der Morgen herauf und Lenz hatte mal wieder keine einzige Sekunde geschlafen. Immer wieder war er diese erste wirkliche Vernehmung durchgegangen, immer wieder hatte er an die Kinder denken müssen. In welches Heim man sie gesteckt hatte, hatte der Leutnant ihm nicht sagen wollen. Auch über Franziskas Schicksal kein Wort. Ein eher gutes Zeichen? Vielleicht! Hätten die Bulgaren Fränze ausgeliefert, säße sie jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier ein. Und das hätte ihm dieser Triumphator auf der Seite des Fortschritts doch ganz sicher nicht vorenthalten …
Von Spionage war in dem Protokoll noch keine Rede, so weit waren sie noch nicht. Dafür war ihm der Leutnant am Schluss der Vernehmung mal wieder psychologisch gekommen: Straftäter seien gewissermaßen charakterlich vorprogrammiert, ob er, Lenz, als junger Bursche nicht mal irgendwas angestellt habe, das ihn mit dem Gesetz in Konflikt brachte, auch wenn er damals heil aus der Sache herausgekommen sei? Ja? Na bitte! Das sei Veranlagung, es habe einfach so kommen müssen.
Er hatte gegen dieses Gequatsche ankämpfen müssen. Was für eine Milchmädchen-Psychologie! Der Leutnant aber hatte gesagt, dass er mit ihm noch Gespräche über seine Jugend führen werde; es gehe ihnen darum, sich ein Bild von Hannah und ihm zu machen. »Wer ist wer, verstehen Sie? Ihre Tat ist das eine, der Mensch, der dahinter steckt, das andere.«
Nicht dumm, dieses Verfahren! Sie wollten herausbekommen, was das für welche waren, die das Risiko einer Flucht auf sich nahmen. Was unterschied Hannah und Manfred Lenz von den vielen anderen? Was hat sie geprägt, was stieß sie ab? Jede Auskunft konnte nützlich sein, um andere Fluchtwillige rechtzeitig zu enttarnen. Vielleicht aber wollte man auf diese Weise auch herausfinden, ob man sie noch umbiegen konnte. Oder ob sie endgültig für den Sozialismus verloren waren …
5. Zum Ersten Ehestandsschoppen
D ie Prenzlauer Allee war sehr breit. In der Mitte fuhr die Straßenbahn, auf den Fahrbahnen rechts und links rasten Autos, zuckelten
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