Krokodil im Nacken
das nicht.«
Sie waren fast die Letzten, nur noch zwei sehr junge, ernst blickende Burschen stiegen zu. Auch sie mit freundlichem Beifall begrüßt. Noch einmal wurden die Listen überprüft, dann schloss der Fahrer die Tür und ließ den Motor an. Der Bus setzte sich in Bewegung und einige der Männer und Frauen brachen in lauten Jubel aus.
Lenz hatte nur Augen für Hannah. Sie sah schlecht aus, schlechter als während der Verhandlung vor dem Stadtgericht, schlechter als während ihres letzten Sprechers vor vier Monaten. Das blasse Gesicht noch weiter abgemagert, ihr inzwischen viel zu langes Haar ausgefranst und stumpf. Dennoch schaffte er es, ihr jedes Mal, wenn sie sich zu ihm umdrehte, froh zuzulächeln. Sicher machte er auf sie den gleichen Eindruck. Sie sollte nicht glauben, dass ihr beider Äußeres irgendeine Bedeutung hatte; körperlich würden sie sich bald erholen.
Sie waren noch keine fünf Kilometer gefahren, da tauschte die junge Frau neben Hannah mit Lenz den Platz. Der Begleitoffizier neben dem Fahrer hatte sich nicht einmal umgedreht.
»Silke und Micha?«, flüsterte Hannah in Lenz’ Armen.
»Sie werden nachkommen … Es war richtig so … Alles andere – viel zu unberechenbar.« Es fiel Lenz schwer zu reden. Einige der Frauen um sie herum waren so hochgestimmt, als wären sie nur irgendeine Reisegruppe auf dem Weg zu einem idyllischen Ausflugsort.
Eine Zeit lang hielten sie sich bloß aneinander fest, dann fragte er leise: »War’s sehr schlimm?«
Hannah senkte nur still den Kopf.
»Was waren das denn für Frauen, mit denen du zusammen warst?«
Sie wollte erst nicht erzählen. Die Frage kam ihr zu schnell, zu überraschend, aber dann musste es doch heraus. Flüsternd berichtete sie von auf den ersten Blick ganz normalen Frauen, die aber zum Teil unvorstellbar grausame Morde begangen hatten – an ihren Männern oder ihren Kindern. Aus Furcht davor, aus dem Hohenschönhausener Luxusknast in das schreckliche Hoheneck oder in irgendein anderes mittelalterliches Frauengefängnis zurückverlegt zu werden, hätten diese schlimmen Weiber die aus politischen Gründen einsitzenden Frauen kontrolliert und drangsaliert. »Immer wieder drohten sie uns: ›Wir haben lebenslänglich, uns kann nicht mehr viel passieren, egal, was wir euch antun …‹ Wir hatten Angst vor denen, haben ihnen Zigaretten gekauft, um uns gut mit ihnen zu stellen … Wenn sie keine Zigaretten hatten, wurden sie ja noch aggressiver.«
In Lenz stieg Wut auf, eine so hilflose, aber auch hasserfüllte Wut, wie er sie sich nicht zugetraut hätte. Seht her, hatte man Hannah und den anderen Frauen suggerieren wollen, mit solchen Elementen habt ihr euch gemein gemacht! Nehmt zur Kenntnis, dass ihr auch nichts Besseres seid …
»Hab’s ja ausgehalten«, tröstete sie ihn. »Wir müssen das jetzt vergessen. Sonst werden wir nie wieder froh.«
Sie hatten die Autobahn erreicht und der Bus fuhr schon längere Zeit zwischen Feldern, Wäldern und sanften Hügeln hindurch, als einer der beiden Herren, die in der Mitte des Busses Platz genommen hatten, plötzlich in den Gang trat. Lenz hatte die beiden schon längere Zeit beobachtet. Sie hatten nicht den Eindruck von entlassenen Häftlingen erweckt, so frisch gebräunt und gut angezogen, wie sie da in ihren Sitzen gesessen und sich miteinander unterhalten hatten. Und richtig, der eher kleine, blonde, mehrfach goldberingte und elegant gekleidete Mann um die Fünfzig, an dem auch die bunte Krawatte auffiel, räusperte sich, bat um Aufmerksamkeit – und stellte sich ihnen als Dr. Vogel vor.
Die nachfolgenden Worte ertranken in begeistertem Beifall.
Freundlich abwehrend hob Dr. Vogel die Hände, und als wieder einigermaßen Ruhe eingekehrt war, stellte er ihnen seinen etwa gleichaltrigen, rundgesichtigen Nachbarn mit dem streng gescheitelten dunklen Haar vor: Rechtsanwalt Jürgen Stange aus WestBerlin. Gemeinsam hätten sie die Ausreisemodalitäten ausgehandelt.
Wieder Beifall.
Dank Hajo Hahne war Lenz auch der Namen Stange ein Begriff. Der Zaubermeister aber, darüber war man sich im Bus einig, war Dr. Vogel, der ominöse Dr. Vogel, den Hannah und er, Dettmers und sicher auch viele andere Häftlinge bisher noch kein einziges Mal zu Gesicht bekommen hatten. Jetzt also, in einer Gruppe von vierzig, fünfzig freigekauften Häftlingen, durften sie ihn doch noch kennen lernen. Er freue sich, sagte er, dass sie nun endlich an das Ziel ihrer Wünsche gelangen würden. Er wisse, dass viele
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