Krokodil im Nacken
von ihnen in den letzten Monaten oder Jahren Schweres durchgemacht hätten, doch sei das ja nun gottlob ausgestanden, darüber seien der Herr Stange und er sehr froh.
Sein WestBerliner Kollege fügte noch ein paar ähnlich freundliche Worte hinzu, dann übernahm wieder Dr. Vogel: »Wir werden nun zum thüringisch-hessischen Grenzübergang Wartha/Herleshausen fahren. Dort verlassen Sie diesen Bus mit all Ihrem Gepäck, um in einen anderen umzusteigen, der Sie ins Aufnahmelager Gießen bringen wird. Je nach Verkehrslage wird die Fahrt etwa fünf Stunden dauern.«
Erneut brach Beifall los, Jubelrufe, Gejuchze. Einige der Frauen vor und hinter Lenz konnten und wollten sich ihre Freudentränen nicht verkneifen.
Dr. Vogel lächelte nur. Es war ein schwer deutbares Lächeln. Lenz hätte es so übersetzt: »Ja, ja! Ist ja gut. Ich weiß, wie sehr Sie sich freuen. Ich aber bin – ideologisch gesehen – neutral. Bin nur Vermittler. Zwar beglückwünsche ich Sie zu Ihrer Freilassung, aber zu dem neuen Lebensabschnitt, den Sie nun beginnen werden, werde ich Sie nicht beglückwünschen. Ich urteile weder über Ihre Tat noch über Ihren jetzigen Schritt fort von uns, mache nur meine Arbeit. So habe ich als Ihr Anwalt das Bestmögliche für Sie herausgeholt.«
Als der Beifall abgeebbt war, äußerte der Mann mit der bunten Krawatte noch eine Bitte:
»Geben Sie in der Bundesrepublik keine Interviews! Reden Sie nicht über die Umstände Ihrer Ausreise. Sie würden Herrn Stange und mir die weitere Arbeit sonst sehr erschweren. Ich appelliere an Sie: Denken Sie an Ihre zurückgebliebenen Mitgefangenen! Wir können ihnen nur helfen, wenn unsere Aktivitäten nicht publik werden.«
Die Gesichter der Männer und Frauen im Bus verrieten es: Niemand würde reden, niemand wollte weitere Geschäfte dieser Art belasten oder gar verhindern.
Zufrieden mit dem Eindruck, den seine Worte hinterlassen hatten, bat Dr. Vogel, ihm nun allgemein interessierende Fragen zu stellen. Später wolle er durch die Reihen gehen und den einzelnen Fall betreffende Fragen beantworten.
Eine junge Frau hob die Hand: Ab wann man denn wieder in die DDR einreisen dürfe? Als Besucher natürlich nur.
Nur wenige lachten, die meisten harrten gespannt der Antwort.
Dr. Vogel: »Vorläufig würde ich Ihnen keinen DDR-Besuch empfehlen. Lassen Sie Zeit vergehen. In ein paar Jahren ist das sicher kein Problem mehr.«
Rechtsanwalt Stange: »Aber auch dann sollten Sie zuvor im Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen nachfragen, ob in der DDR nichts gegen Sie vorliegt. Es gibt Fälle, in denen ehemalige DDR-Bürger auf dem Territorium der DDR festgehalten wurden. Da hatten wir dann viel Arbeit, sie wieder herauszuholen.«
Dettmers, von ganz hinten: »Und wie ist’s mit Transitreisen?«
Dr. Vogel: »Da gibt es keine Probleme. Es sei denn, Sie sind in der Bundesrepublik gegen die DDR tätig geworden und ein neues Strafverfahren gegen Sie ist anhängig.«
Es folgten ein paar Fragen, die Hannah und Lenz nicht sehr interessierten: Wie lange das Notaufnahmeverfahren sich hinziehen würde, was man tun müsse, wenn man sofort nach Berlin weiterreisen wolle – WestBerlin natürlich, herzliches Lachen –, ob man sich bei Dr. Vogel über die Behandlung in den DDR-Haftanstalten beschweren könne oder das lieber erst im Westen tun solle?
Rechtsanwalt Stange antwortete, das Notaufnahmeverfahren in Gießen werde nur etwa zwei Tage in Anspruch nehmen. Danach dürfe sich dann jeder dort niederlassen, wo er wolle, egal ob in Hamburg, München, Stuttgart, WestBerlin oder – besaß man erst einen Pass – irgendwo im Ausland.
Worte, für die er sehr viel Beifall erhielt.
Dr. Vogel sagte, er halte es nicht für sinnvoll, sich über die Behandlung in den DDR-Strafvollzugsanstalten zu beschweren. Solches Nachkarten solle man im Interesse weiterer Häftlingsausreisen doch lieber vermeiden. Auf jeden Fall sei er dafür nicht der richtige Ansprechpartner.
Zögerndes Höflichkeitsklatschen.
Als keine weiteren Fragen mehr gestellt wurden, schritt Dr. Vogel durch die Reihen, begrüßte jeden Freigelassenen mit Handschlag und fragte nach persönlichen Sorgen, Nöten und Problemen. Hannah und Manfred Lenz hatten nur eine einzige Sorge: Ihre Kinder! Würden sie ihnen rasch nachfolgen? Und wie würde die Ausreise vonstatten gehen?
Dr. Vogel beruhigte sie: »Sie haben richtig gehandelt. Jetzt, da Sie aus der Staatsbürgerschaft der DDR entlassen sind, habe ich alles in der Hand, um
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