Krokodil im Nacken
Kassiber herauszuschmuggeln. Lenz, der in Hemd und Hose festgenommen worden war, bekam zu seiner Zivilkleidung noch ein fabrikneues Sakko aus dem knasteigenen Textilfundus in die Hände gedrückt. Die ausgebürgerten Personen sollten in einigermaßen seriösem Zustand über die Grenze entlassen werden; ehemalige DDR-Bürger durften doch nicht wie arme Verwandte in den Kapitalismus ausreisen.
Seine Armbanduhr, der Gürtel, das Portemonnaie. Lenz bekam zurück, was ihm im Jahr zuvor abgenommen worden war, und wurde auf seine Zelle zurückgeführt.
Die letzte Nacht im Knast! Natürlich redeten Dettmers und er sehr viel und versprachen sich mehrmals, miteinander in Kontakt zu bleiben. Sie konnten ihre gemeinsame Reise durch die verschiedenen Gefängnisse doch nicht einfach nur mit einem Händedruck beenden. Leicht aber würde es nicht werden, sich öfter zu sehen; Lenz wollte nach Frankfurt am Main, Dettmers zog es nach WestBerlin. »Wat soll ick woanders?«, berlinerte er zukunftsfroh. »Reinickendorf is ja ooch fast schon Pankow.«
Am Morgen darauf geschah lange nichts. Sie bekamen ihr Frühstück und warteten, wurden nervös und spazierten in der Zelle auf und ab. Der eine von rechts nach links, der andere von links nach rechts. Bis endlich die Tür geöffnet wurde und sie noch einmal in den Verwaltungstrakt geführt wurden, damit ihnen ihre Entlassungspapiere ausgehändigt werden konnten. Auf einem dieser Papiere stand, dass man sie vorzeitig aus der Haft entlassen habe – wegen guter Führung!
Dettmers musste noch in der Zelle lachen: Gute Führung! Er, den Petrograd aus dem Arrest holen musste, um ihn auf Transport zu schicken, hatte sich gut geführt? Ihr Protestmarsch wenige Tage zuvor, die Buchenwald-Rufe – gute Führung?
Lenz hatte nur Augen für die Urkunde, die ihnen übergeben worden war. Auf einem DIN-A4-großen Bogen Papier wurde sie ihnen bestätigt, ihre Entlassung aus der DDR-Staatsbürgerschaft. Unterschrift: Der Innenminister. Was für ein wertvoller, unbezahlbarer Fetzen!
Danach marschierten sie weiter voller Unruhe in der Zelle auf und ab. Nein, solange sie nicht hinter der Grenze waren, gab es kein Aufatmen. Alles war möglich! Ein Papier war doch nur ein Papier, mit vier Fingern zu zerreißen.
Es gab noch mal Mittagessen. Sie hatten Mühe, es hinunterzubekommen. Dann, endlich: erneutes Riegelklirren und Schlüsselrasseln. Sie lauschten aufgeregt. Es ging schnell, im Abstand von nur jeweils drei, vier, fünf Minuten wurden die Zellen geöffnet – und nicht wieder verschlossen!
»Mann!«, stöhnte Dettmers. »Ist das ’ne Entbindung!«
Dann aber, irgendwann nach vielen anderen Zellenaufschlüssen, klirrten auch die Riegel an ihrer Tür, rasselte auch an ihrer Tür der Schlüssel im Schloss und stand kurz darauf ein junger Leutnant vor ihnen. Mit mürrischem Gesicht fragte er nach ihren Namen, hakte sie auf einer Liste ab und winkte sie heraus. »Mitkommen!«
An vielen, nun offenen Zellentüren vorüber ging es die eiserne Stiege hinunter in eine Art Vorhalle und danach durch einen von nur wenigen Glühbirnen erleuchteten Gang. Rechts und links standen Wachposten mit Maschinenpistolen, in einem Vorraum nahmen zwei Offiziere sie in Empfang. Sie wurden mit dem Nachnamen aufgerufen, mussten mit Vornamen und Geburtsdatum antworten, und auch der Haftentlassungsschein mit dem Gangsterfoto wurde noch einmal überprüft, dann durfte Lenz vor Dettmers durch eine breite Tür treten. Er machte zwei, drei Schritte – und stand auf einer Freitreppe, vor ihm ein bunter Reisebus, voll besetzt mit Männern und Frauen.
»Was is?« Der weißblonde Offizier neben ihm wurde ungeduldig. »Gönn Se nich – oder woll’n Se nich?«
Lenz blickte ihn nur nachdenklich an, dann bestieg er den Bus. Es war nur der hintere Einstieg geöffnet. Fremde Gesichter lachten ihm zu, es wurde Beifall geklatscht. Er sah sich nach Hannah um – und da winkte sie auch schon! In der dritten Reihe von vorn saß sie, zwischen vielen anderen Frauen. Er stürzte ihr entgegen, umarmte sie lange und küsste sie und kehrte danach still in die hinteren Reihen zurück, um sich dort einen Platz zu suchen. Offensichtlich waren die Frauen zuerst zum Bus geführt und angewiesen worden, sich nebeneinander zu setzen, sonst hätte Hannah ihm sicher einen Platz freigehalten.
Dettmers empfing den Beifall, als stünde er ihm zu, setzte sich neben Lenz und grinste: »Bonjour Monsieur! Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Bitte, vergessen Sie
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