Krokodil im Nacken
fliehen, in dem alles einen Warencharakter hat, sogar der Mensch. Sie wollten ins Land der Arbeitslosigkeit, der Drogen und der Kriminalität und faseln hier etwas von irgendwelchen Vorschriften, die Sie an Ihrer Selbstverwirklichung hindern. Merken Sie denn nicht, wie lächerlich Sie sich damit machen?«
Ja, der Mensch steht bei euch im Mittelpunkt – im Mittelpunkt eurer Überwachung! Wäre es anders, säße ich jetzt nicht vor dir und rauchte deine Zigaretten, dann säße meine Frau nicht in einem eurer Verwahrräume, wären unsere Kinder nicht im Kinderheim. Ich sage dir das nicht, weil ich noch nicht weiß, was für meine Frau, meine Kinder und mich das Beste ist, aber vielleicht kannst du ja in meinem negativ-dekadenten Gesicht lesen, lieber Genosse Knut.
Der Leutnant konnte nicht in Lenz’ Gesicht lesen. »Wäre interessant zu wissen, was Sie gerade gedacht haben,« sagte er.
Lenz zog an seiner Zigarette. »So ›interessant‹ ist das nicht.«
Pause. Überlegte der Leutnant, wie er weiter verfahren sollte? Nein, er blickte auf seine Armbanduhr und seufzte. »Also gut, machen wir Schluss für heute. Oder haben Sie noch irgendwas auf dem Herzen?«
»Nur meine ewig wiederkehrende Frage nach den Kindern. Ist es Ihnen inzwischen gelungen, sie zusammenzubringen?«
Silke und Micha waren nicht im selben Heim. Es waren keine Plätze frei. Micha hatten sie in einem Pankower Heim untergebracht, Silke in einem in Prenzlauer Berg. Der Leutnant hatte versprochen, sich um eine Zusammenführung zu bemühen, bisher jedoch war ihm das nicht gelungen.
»Tut mir Leid. Zurzeit sieht man keine Möglichkeit. Schließlich können wir kein anderes Kind aus seiner gewohnten Umgebung reißen.«
Das konnten sie nicht. Wenn sie auch sonst vieles konnten, das konnten sie nicht!
»Vergessen Sie nicht, dass es Ihre Schuld ist, dass Ihre Kinder nicht bei ihren Eltern sind.«
Ein unnötiger Hinweis. Lenz antwortete nichts darauf, der Griff zum Hörer, die Vernehmung war beendet.
Sie wollten herausfinden, wer er war und was er dachte – eine Chance, ihnen den reumütigen Sünder vorzuspielen? Nach dem Motto: Ich war auf dem falschen Weg, bitte, führt mich auf den Pfad der Tugend zurück?
Nein! Es gab keinen Weg zurück. Was Hannah und er getan hatten, hatte sie bereits zu Staatsfeinden gemacht. Verräter blieb Verräter, nie wieder würde man ihnen eine wirkliche Chance geben, sie stets an diesen Fehltritt erinnern … Und, verdammt noch mal, sie wollten ja auch gar nicht zurück! Welch Furcht erregender Gedanke – alles wieder von vorn … Wenn nur die Kinder nicht wären! Jeder Tag Trennung brannte im Herzen, machte unsicher und verletzlich …
Die Riegel, der Schlüssel, die Zellentür flog auf und der grauhaarige Friseur und Sanitäter betrat die Zelle. Um ihm neue Abführtabletten zu bringen. Bis jetzt hatten noch keine gewirkt.
Lenz ließ sich die Pillen in die Hand zählen, spülte sie mit Wasser runter und versuchte ein Lächeln. »Hoffentlich lassen die mich nicht auch im Stich.« Nie hätte er sich vorstellen können, dass ein Mensch, der aß und trank, wochenlang keinen Stuhl haben könnte. Wo blieb denn das ganze Zeug, das er in sich hineinstopfte? Wie viele Kilometer musste er noch laufen, um endlich mal wieder scheißen zu können?
Der Graue würdigte ihn keiner Antwort. Die Tür flog zu, der Schlüssel, die Riegel. Und da überkam es Lenz mit einem Mal, dieses jämmerliche Gefühl der Reue. Wie eine alles hinwegspülende Flutwelle brach es sich Bahn: Wären sie doch nur zu Hause geblieben in ihrer gemütlichen Drei-Zimmer-Neubauwohnung! Hätten sie doch nur einfach weiter die Klappe gehalten und mitgemacht, dann müssten jetzt die Kinder nicht leiden, sie würden einen sonnigen Herbst erleben und dürften sich auf eine schöne Weihnachtszeit freuen.
Hätte, wäre, könnte! Die berühmten drei tauben Nüsse. Er hatte alles falsch gemacht, hatte schon immer alles falsch gemacht; er, Manfred Lenz, war ein Versager.
7. Cia – Cia – Cia – Cio
M utters Gäste! Manni ging ihnen auch später lieber aus dem Weg. Und gelang ihm das nicht, weil Schnurrbart-Meisel mal wieder Skat spielte und er der Mutter helfen musste, hielt er sich für sein Opfertum schadlos, indem er sie beobachtete. Dann stand er hinter der Theke, zapfte Bier oder spülte Gläser und ließ die Augen wandern. Dass viele der Gäste seine Blicke nicht mochten, sich sogar manchmal bei der Mutter über ihn beschwerten, kümmerte ihn nicht. Er
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