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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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freuten sich über den viel zu frühen, herrlichen Sommertag. Später zeigte er den Kindern, wie man Moospolster ausbettete, ohne sie zu zerstören. Das hatte er als Junge oft getan, damals, als er noch stolzer Besitzer eines Küchenzoos war. Hannah sagte, dass sie den kleinen Manni gern gekannt hätte, und er lachte und erwiderte: »Lieber nicht …«
    Ein Geräusch schreckte ihn auf. Er verbarg das Birkenblatt in der Hosentasche, stellte sich an die Tür und lauschte.
    Die Nachbarzelle wurde geöffnet und gleich darauf wieder geschlossen. Danach waren Schritte zu hören, die lauten des Läufers, der den Häftling führte, die leise schlurfenden des Häftlings in seinen Filzpantoffeln. Einen Moment später war wieder alles still.
    Dieser undurchschaubare Rhythmus der Vernehmungen! Holen sie dich heute oder holen sie dich nicht? Wartest du vergeblich, zieht der Tag sich endlos lange hin; wirst du geholt, geschieht das fast immer unerwartet. Aber du, hörst du nur den ersten Riegel krachen, bist schon voller blöder Vorfreude: Es geht weiter! Und der Leutnant weiß, dass du noch immer auf Abwechslung lauerst und bei jedem Schritt im Flur zusammenzuckst und zu hoffen beginnst und wie enttäuscht du bist, wenn eine der anderen Zellentüren geöffnet wird … Hat er ja alles in der Ausbildung gelernt, der Genosse Klassensprecher, der irgendwo aus dem Süden der Republik kommen muss, wie du inzwischen heraushören konntest, dort sein Abitur machte und sicher bald darauf von der Stasi angeworben wurde. Ob er wohl erst lange überredet werden musste oder mit fliegenden Fahnen bei denen eintrat?
    Sie hatten sich inzwischen schon öfter gegenübergesessen, der Untersuchungshäftling Lenz und sein Vernehmer. Lenz hatte ausgesagt, was der Leutnant wissen wollte, und der Leutnant hatte sich Notizen gemacht und dabei immer wieder seine offensichtlich sehr zarte Schreibhand ausgeschüttelt. Dabei hatte aber nicht nur der Leutnant Lenz, sondern auch Lenz den Leutnant »vernommen«.
    Der Leutnant wollte wissen, wie Lenz auf diesen Hocker hier kam; Lenz interessierte es von Mal zu Mal mehr, wie sein Gegenüber hinter diesen Schreibtisch kam und was er insgeheim über das von ihm vernommene Ehepaar Lenz dachte.
    Kamen dem Leutnant denn nicht manchmal Zweifel an der Sache, die er hier vertrat? War für ihn die vorbehaltlose Anerkennung der unantastbaren Autorität der Parteiführung als absolute und unfehlbare Quelle von Wahrheit und Moral tatsächlich die einzig mögliche und vernünftige Denkweise? Oder war er in Wahrheit gar kein so übler Kerl, sondern nur auf falsche Mentoren hereingefallen? Im Großen und Ganzen allerdings musste seine politische Einstellung stimmen; auch Verwandte und Bekannte, Freundin oder Ehefrau, alle mussten sie den Lackmustest bestanden haben, sonst säße er nicht auf diesem Stuhl.
    Wenn dem Leutnant aber Zweifel kamen, auf welche Weise verdrängte er sie? Mit dem starken Wunsch, aufzusteigen? Solche treuen Söhne ihres Staates hatte es ja zu allen Zeiten gegeben; junge Ehrgeizlinge, die unbedingt dazugehören wollten. Und ging alles zu Bruch, auch kein Schaden, hatte man doch immer nur Befehle befolgt, nie eigene Entscheidungen getroffen oder gar Urteile gefällt. Das berühmte kleine Rädchen im Getriebe!
    Lenz setzte sich wieder, nahm das Birkenblatt aus der Hosentasche und betrachtete es lange. Danach schob er es zwischen zwei Matratzenteile, damit es nicht entdeckt werden konnte, falls ein Schließer die Zelle betrat, und fischte einen der beiden Holzsplitter aus der Hosentasche, die er sich von der Pritsche gerissen hatte, um sie als Zahnstocher und Nagelreiniger benutzen zu können. Zur Unterscheidung war der für die Nägel ein wenig kürzer. Er begann mit einer gründlichen, wenn auch eigentlich unnötigen Nagelreinigung. Dabei kam ihm in den Sinn, dass es an der Zeit war, für den Leutnant einen Namen zu finden. Ein Dienstgrad war viel zu unpersönlich und ein Spitzname für einen so intensiven Gesprächspartner auf die Dauer zu wenig.
    Er überlegte alle zehn Finger lang, dann hatte er den passenden Namen gefunden: Knut! Knut war der richtige Name für solch einen Eliteschüler. Bisschen altmodisch, bisschen betulich, aber nett. Tanzte nie aus der Reihe, spielte mit, egal was gespielt wurde; »Leutnant Knut«, das gefiel ihm.
    Als dann am Nachmittag der Tempelaffe doch noch kam, um Lenz zur Vernehmung zu holen, steckte unter dessen Hemd das Birkenblatt. Er wollte endlich mal einen Talisman

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