Krokodil im Nacken
wohnte hier, sie waren nur zu Besuch; sollten sie doch gehen, wenn es ihnen hier nicht gefiel.
Sein Lieblingsfeind Nr. 2 – gleich nach dem Frauenliebling Bel Ami kam er – war der dicke Schuhladenbesitzer Bessel. Der Bessel war so fett, dass er schon kein Doppelkinn mehr hatte; sprach er, bebten seine wabbligen Hängebacken wie zwei mit Wasser gefüllte Luftballons. Die Mutter wusste zu erzählen, dass der Friedrich Bessel zu Hitlers Zeiten ein wichtiger Parteibonze gewesen war, »der liebe Gott vom Prenzlauer Berg«. Jetzt lebte er mit einer hübschen, kleinen Frau zusammen, die seinen Schuhladen führte und Manni schon deshalb Leid tat, weil sie zu allen Leuten freundlich war und einen solchen, ewig schweinigelnden Stammtischklucker nicht verdient hatte. Den Bessel ärgerte es furchtbar, wenn Manni mal vergaß zu grüßen oder nicht laut genug gegrüßt hatte. Dann pfiff er ihn an den Stammtisch zurück und ließ ihn den Gruß wiederholen. Bis es klappte. Und zum Schluss drohte er ihm: »Wenn du meiner wärst!«
Kein Wunder, dass ausgerechnet Schnurrbart-Meisel und der Bessel sich so gut verstanden. Immer steckten sie die Köpfe zusammen, flüsterten sich was zu und grinsten über irgendwas. Und dienstags, wenn Schließtag war, machten sie ihre Privatkneipe auf. Dann hockten sie gemütlich am Stammtisch und kloppten Skat. Meistens zusammen mit Else Golden, die immer in Männerkleidung herumlief, mit einer Freundin »verheiratet« war und von Schiebereien lebte. Keine Feindin von Manni, aber eine besonders interessante Persönlichkeit.
Die Golden war etwa so alt wie die Mutter, Mitte vierzig, trug eine teure Goldrandbrille, schob gern ihr kleines, energisches Kinn vor und hatte eine ewig gerötete Stupsnase. Sie trank viel und scherzte oft, betrachtete sich als Mutters beste Freundin und handelte mit allem, was ihr unter die Finger kam. Darunter schwarzgebrannter Schnaps, Schokolade, Uhren, Schlipse, englische Heilsalbe, französischer Parfümersatz und amerikanische Zigaretten. »Scheiß aufs Leben, es scheißt ja auch auf dich« lautete ihr Lieblingsspruch. War die Golden betrunken, saß sie am Stammtisch und heulte oder warf volle Biergläser nach ihrer besten Freundin, weil die ihr dann nichts mehr ausschenken wollte. In solchen Fällen musste die Mutter Erna anrufen. Erna Weinlich, groß, kräftig, breitschultrig, mit straffem Gesicht und langem, hinten zum Knoten zusammengestecktem rabenschwarzem Haar, war Else Goldens Frau, blieb aber lieber zu Hause und putzte, wusch und kochte, anstatt mit den Kerlen in der Kneipe herumzuklucken.
Auf dem Heimweg unter den Fittichen der resoluten Erna war die betrunkene Else mal schwer gestürzt, seither ging sie am Stock. Dennoch tanzte sie, wenn sie lustig war, mit den anwesenden Frauen oder Männern gern durch die ganze Gaststube. »Cia – cia – cia – cio«, sang sie dazu, »Schieber steh’n am Bahnhof Zoo! Ami, Stella, Orient, das sind die Marken, die jeder Schieber kennt.« Oder sie wurde sinnlich, presste sich beim Tanzen mit dem Unterleib an diejenige oder denjenigen, mit dem sie gerade tanzte, und flötete im Walzertakt: »Schieben rein, schieben rein, schieb’n lang-sam rein, aber schieb’n immer rein …« Woher hätte ein Knirps wie Manni denn wissen sollen, was da wo reingeschoben werden sollte? Man vertröstete ihn grinsend auf später: »Lass mal, Herzchen, das lernste auch noch – irgendwann, wenn alles an dir ganz groß ist.«
Eine ganz andere Stammtischlerin war Trude Wohlgemuth, die »tragische Trude«, wie hinter ihrem Rücken geflüstert wurde. Ihr Mann war im Krieg gefallen, ihr Sohn im KZ ermordet worden, die Tochter während eines Luftangriffs in einem Luftschutzkeller an der Frankfurter Allee verbrannt. Oft saß sie mit fahlem Gesicht zwischen den anderen Gästen und gab sich Mühe, mitzureden, mitzutrinken, mitzulachen. Irgendwann, mitten im Gespräch, war sie aber plötzlich »weg«, dann starrte sie nur noch stumm in ihr Bier- oder Schnapsglas, ganz egal, ob die anderen am Tisch sich gerade heftig stritten oder Schunkellieder sangen. Nie hatte Manni die tragische Trude weinen sehen, und nur der Mutter hatte sie erzählt, wie es sie vor der Einsamkeit in ihrer Wohnung graute. Irgendwann Mitte der fünfziger Jahre war die tragische Trude dann plötzlich nicht mehr gekommen, und niemand wusste, was aus ihr geworden war; einige Stammgäste vermuteten, sie hätte wieder geheiratet, andere, dass sie sich das Leben genommen hatte.
Zu den
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