Krokodil im Nacken
etwas Clowneskes. Lachen aber sah Manni diese Püppi nie, nicht mal, wenn sie ihm einen Streifen englischer Schokolade oder einen amerikanischen Kaugummi zusteckte. Dafür kam sie aber oft sehr zerschunden oder mit einem Veilchen im Gesicht in den Ersten Ehestandsschoppen. »Da hat so ’n mieser Onkel wohl wieder mal nicht bezahlen wollen«, schimpfte die Mutter dann und sofort war Manni auf diesen miesen Onkel genauso böse wie die Mutter. Hätte er gewusst, wer dieser »Onkel« war, hätte er ihm einen Streich gespielt.
Einmal sahen Manni und seine Freunde Püppi Heinemann die Abteilung G des Krankenhauses Nordmarkstraße betreten, und die großen Jungen erklärten ihm, dass dort die Huren auf Geschlechtskrankheiten untersucht wurden. Würde ein »G« in ihr »Bäckerbuch« eingetragen, hätten sie einen Tripper und müssten dort bleiben, bis sie wieder gesund waren. Grund genug für Manni, an diesem Tag die flachen Bauten der Abteilung G hinter dem eigentlichen Krankenhaus nicht aus den Augen zu lassen. Erst als er die junge, blasse, blonde Frau wieder herauskommen sah, lief er froh und erleichtert nach Hause.
Es gab viele Gäste, die Mannis Interesse erweckten, wenn er mit unschuldigem Gesicht, aber sehr neugierigen Augen hinter der Theke stand, um der Mutter zu helfen. Da war ja auch noch Arno von der Müllabfuhr, der eine so große und fleischige Nase hatte, dass sie ihm wie eine Gurke über die Oberlippe hing, und der so gern das Lied vom Tröpfchen aus dem kleinen Henkeltöpfchen sang: »Oh, Susanna, wie ist das Leben doch so schön!«; da war Heinz der Stotterer, ein Straßenreiniger, der wirkte wie aus alten Brettern zusammengenagelt und wegen einer Verschüttung im Krieg schlimm stotterte und deshalb soff wie ein Loch; da war der rotgesichtige Fleischermeister Möckel, der gleich nebenan seinen Laden hatte und eine verhuschte Frau, eine bildhübsche Tochter, ein rabaukenhaftes, sommersprossiges Jungen-Zwillingspaar und eine steinalte Mutter befehligte. Da war Emilchen der Schweiger, der nie etwas sagte, sondern immer nur qualmte und trank und nickte und mit allem einverstanden war; da waren die Brikett-Anna, eine dünne, blonde Frau mit Muskeln an den Armen, der eine Kohlenhandlung und ein sehr fleißiger, magerer Mann gehörten, der vom vielen Kohlenschleppen abends immer viel zu müde war, um noch in die Kneipe zu gehen, und die Kippen-Marie, eine große, dicke Frau mit schmalen, ewig geröteten Augen, die immer die Zigarettenkippen aus den Aschenbechern nahm, den Tabak rauspolkte und sich neue Zigaretten daraus drehte; und da war der Hemden-Rudi, ein großer, dünner Mann mit Höckernase, der fast jeden Abend kam und stets und ständig allen Leuten Hemden verkaufen wollte, von denen keiner wusste, woher er sie hatte.
In unterschiedlicher Besetzung saßen sie Abend für Abend am Stammtisch, über dem ein großer Lötkolben mit einem Schild hing. Komm, lass uns noch einen verlöten! , stand auf diesem Schild, und so verlöteten sie, was in sie hineinging, und nebenbei redeten und redeten sie und einer war immer klüger als der andere. Als Neun- oder Zehnjähriger begann Manni sich das erste Mal dafür zu interessieren, was da palavert wurde, und von da an setzte er sich, wenn die Mutter ihn von der Theke gescheucht hatte, damit er endlich ins Bett ging, öfter mal dazu und tat, als wollte er nur noch das Malzbier austrinken, das er sich zuvor gezapft hatte.
Anfangs wunderten sich die Stammgäste über dieses Küken in ihrer Runde; solange aber nicht alle Stühle besetzt waren und er sein Malzbier nicht aushatte, konnten sie dem Sohn des Hauses, der da mit verträumtem Blick an seinem Glas nippelte, nicht den Stuhl unter dem Hintern wegziehen. So lernte er sie mit der Zeit immer besser kennen, all diese Männer und Frauen, die Krieg und Terror auf irgendeine Weise überlebt hatten und dieses Überleben im Ersten Ehestandsschoppen diskutierten und feierten. Machte ja auch Spaß, was er am Stammtisch zu hören bekam, mit dem zu vergleichen, was er aus der Schule, dem Radio, den Kinowochenschauen oder aus der Zeitung wusste.
Zwei von den Stammgästen schloss er dabei in sein Herz. Das waren Onkel Ziesche, Mutters Steuerberater mit dem steifen Hals, der schon auf die siebzig zuging und eine so blanke Glatze hatte, dass man sich drin spiegeln konnte, und der jüdische Schneidermeister Maxe Rosenzweig, der Laden und Wohnung gleich nebenan hatte und trotz seiner schlimmen Kellerjahre sehr komisch sein
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