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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Kleinbürger, das seien Leute, die eine Kneipe, Bäckerei oder Fleischerei besäßen oder in irgendeinem Büro arbeiteten. Und nach Ansicht der jetzt herrschenden Arbeiterklasse sei man als Kleinbürger nun mal nicht besonders fortschrittlich, sondern das genaue Gegenteil davon, nämlich eng im Denken, ein bisschen beschränkt und ziemlich spießig. Das Wort »Individuum« aber sei nur einfach eine abfällige Bezeichnung für irgendeinen einzelnen Menschen.
    Eine Erklärung, die Manni sehr nachdenklich stimmte, und so erzählte er auch der Mutter und Onkel Ziesche, als was die Zeisig ihn bezeichnet hatte. Die Mutter wurde sogleich sehr zornig. »Die soll mir noch mal vor die Theke kommen, da werd ich ihr mal klar machen, was für ’n armseliges Individuum sie ist.« Onkel Ziesche aber lachte nur und sagte, so sei das nun mal heute, in dem beliebten Wort »Proletarier« stecke eben auch ein kleiner Arier.
    Das begriff Manni nicht, Onkel Ziesche musste es ihm erklären. Er kapierte es dennoch nicht und Onkel Ziesche tröstete ihn: »Mach dir keine Sorgen, Manni. Es gibt nichts Dümmeres, als auf seine Herkunft stolz zu sein. Egal, ob einer aus dem Adel, dem Großbürgertum oder dem Proletariat kommt, sich seiner Religion oder seiner Hautfarbe rühmt, von Bedeutung ist nur, was für ein Mensch man ist, nicht, aus welcher Kiste man kommt.«
    Das verstand Manni schon eher, eine Frage aber musste er noch loswerden. »Und Lehrer?«, fragte er. »Sind die auch Arbeiter?«
    Onkel Ziesche lachte. »Nee! Ich weiß ja nicht, was deine Frau Zeisig vorher gemacht hat, als Lehrerin aber ist sie keine Arbeiterin mehr.«
    »Und was ist sie dann?«
    Da kuckte Onkel Ziesche erst nur verblüfft, dann strahlte er: »Hast Recht, Manni, als Lehrerin ist sie natürlich selbst ’ne Kleinbürgerin.«
    Manni strahlte mit: »Und auch ’n Indi…, Indivendrium?«
    Onkel Ziesche: »Aber freilich! Jeder Mensch ist ein Individuum, ob ihm das nun gefällt oder nicht.«
    »Dann kann ich zu ihr also auch kleinbürgerliches Indi…, Indidium sagen?«
    Das aber wollte die Mutter nicht. »Verkneif dir das lieber«, bat sie ihn. »Vielleicht kommt diese tolle Pädagogin ja doch aus der Arbeiterklasse und dann verklagt sie dich wegen übler Nachrede.«
    Kam sie aber nicht, die Hildegard Zeisig, denn Else Golden holte Erkundigungen ein und erfuhr, dass die Zeisig vor dem Krieg Sparkassenangestellte gewesen und erst nach dem Krieg zur Neulehrerin ausgebildet worden war, also tatsächlich selbst aus dem Kleinbürgertum kam.
    »Und trotzdem erzählt se den Kindern so einen Stuss?« Die Mutter konnte sich gar nicht beruhigen und schimpfte noch ein paar Tage später am Stammtisch über die Zeisig. Gleich wurde viel von der guten, alten Kaiserzeit geschwärmt, als in der Schule noch Zucht und Ordnung herrschten, und so mancher dachte dabei wohl auch an eine Zeit, die noch nicht ganz so weit zurücklag.
    Es passte vielen Eltern nicht, dass nun die Zeisigs ihre Kinder unterrichteten. Sie befürchteten, dass aus ihren Kindern lauter kleine Kommunisten wurden, und schlugen in ihrer privaten Erziehung einen strikten Gegenkurs ein. Die umworbenen Kinder standen zwischen den Fronten und nutzten ihre privilegierte Rolle aus, indem sie Elternhaus und Schule gegeneinander ausspielten. »Mein Vater hat gesagt, dass Sie keine Ahnung haben.« – »Die Zeisig sagt, du denkst re-ak-tio-när.«
    Manni war einer von denen, die oft Mitleid mit den Lehrern hatten, hatte die Mutter ihm doch erklärt: »Die müssen solches Zeug reden, sonst werden se entlassen.« Wie aber sollte er dieses Mitleid zum Ausdruck bringen? Er tat es, indem er viel fragte. Was die Zeisig mit der Zeit immer wütender machte, die Klasse aber freute.
    In der fünften Klasse blieb Manni sitzen. Er hatte ein halbes Jahr lang keine Schularbeiten gemacht. Aus berechtigten Gründen, wie er fand. Diese berechtigten Gründe hatten mit Onkel Willi zu tun, wie er noch immer zu Schnurrbart-Meisel sagte, weil er sich zu »Papa« nicht durchringen konnte. Der Stiefvater hatte von Jahr zu Jahr mehr bewiesen, dass er ein taubes Herz hatte. Er konnte dafür nichts, wie die Mutter behauptete, diese Taubheit aber machte das Zusammenleben mit ihm schwer. Die Mutter rannte und schuftete, Onkel Willi markierte den Wirt. Dienstags, wenn Schließtag war, reinigte die Mutter die Zapfanlage, putzte die Kneipe, lief einkaufen und saß am Abend über den Papieren; Abrechnungen, Lieferscheine, Steuermeldungen. Onkel Willi hatte

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