Krokodil im Nacken
auf ihn einredete, sich zu bessern, sah er sie jedoch danach neben Onkel Willi an der Theke stehen, war das vergessen. Entweder Onkel Willi oder er.
In dieser Zeit blieb er an schulfreien Tagen oft lange im Bett und sah zu, wie es hinter den Jalousien heller und heller wurde. Drangen Wortfetzen von der Straße zu ihm herein – zwei oder drei Frauen, die gerade vom Spaziergang, Einkaufen oder aus der Kirche kamen –, dann fürchtete er sich davor, dass sie auch über die Mutter, Onkel Willi und ihn reden könnten. Es musste ja in der ganzen Straße zu hören gewesen sein, wie er nach der Polizei gerufen hatte.
Manchmal stand er dann überhaupt nicht auf, blieb liegen und las. Kam dann irgendwann die Mutter, weil sie sich über ihn wunderte, blickte er sie nicht an. In ihrer Hilflosigkeit schimpfte sie: »Du liest zu viel.« Doch das war nicht ernst gemeint. Sie wollte ja, dass er viel las, weil man so am leichtesten lerne, wie sie sagte. Sogar die dicken Tarzan-Romane hatte sie ihm empfohlen, und da es die nur im Westen gab, sie also teures Westgeld kosteten, half sie ihm beim Sparen. Als junges Mädchen hatte sie diese Romane verschlungen; kein Trotzköpfchen, kein Nesthäkchen, der Dschungel war ihre Welt gewesen. Und jetzt? Jetzt ließ sie sich von einem Schnurrbart-Meisel mit den Füßen treten.
Nein, nicht die Mutter und schon gar nicht Onkel Willi oder die Lehrer waren in jener Zeit Mannis Erzieher – die Bücher, die er las, waren es! Er las ja nicht nur Tarzan-Romane, er prüfte alles, was ihm in die Finger fiel. Bücher, die zu schwer für ihn waren, gab es nicht; es gab nur solche, die ihn interessierten, und solche, die ihn nicht interessierten.
Als ihm seine Bettkluckerei endlich zu blöd wurde, zog er sich auf die Straße zurück. Und Kalle Kemnitz, sein bester Freund und Mitsitzenbleiber, begleitete ihn auf Schritt und Tritt.
Der schmale, dunkelhaarige, ewig blasse Kalle wohnte in der Dunckerstraße, in einer Wohnung im dritten Hinterhof. Seine verwitwete Mutter war so arm, dass jedes ihrer vier Kinder nur ein paar Schuhe besaß, weshalb sie im Winter, wenn die Schuhe beim Schuster waren, nicht zur Schule gehen konnten. Wofür Manni Kalle und seine Geschwister oft beneidete.
Vom ersten Schultag an steckten Manni und Kalle zusammen. Da hätten sich zwei gesucht und gefunden, sagte Kalles Mutter oft und lachte über sie.
Gab es rings um die Prenzlauer Allee eine Laubenkolonie, in der sie nicht Äpfel, Birnen, Pflaumen oder Eier geklaut hatten? Gab es bis hoch zum Brandenburger Tor eine Seitenstraße, die sie nicht abgewandert hatten? Sogar in die Museen zog es sie, und so standen sie eines Tages in dem für Deutsche Geschichte und besichtigten Schrumpfköpfe aus dem KZ, Lampenschirme aus Menschenhaut und eine Guillotine, auf der Widerstandskämpfer der Nazizeit ihr Leben gelassen hatten. Niemand hatte sie dazu angehalten, sich das anzusehen; diese Dinge wurden ausgestellt und interessierten sie. Es wurde ja immerzu über diese Zeit geredet, und hatten ihre Väter etwa nicht für diesen furchtbaren Hitler in den Krieg gemusst und waren nicht wieder heimgekehrt?
Nicht weit von der Museumsinsel, an der Monbijou-Brücke, wollten sie mal nach Hamburg abhauen, Schiffsjungen werden, die weite Welt bereisen. Als blinde Passagiere auf einer Spreezille wollten sie die Reise starten, zwei Mark fünfzig für ihren Lebensunterhalt hatten sie in der Tasche. Sie wollten weg, weil es doch irgendwo ein interessanteres Leben geben musste als das, das sie führten. Sie wurden entdeckt und nach Hause geschickt.
An anderen Tagen fuhren sie mit dem Doppelstockbus, erste Reihe oben, durch die Stadt. Von ihrem Thron aus hatten sie den besten Überblick; das Fußvolk auf den Straßen war nur zu ihrem Amüsement da. Manchmal schwänzten sie auch die Schule und fuhren zu den weit nordöstlich gelegenen, ehemaligen Kiesgruben nach Buch raus. In diesen Gruben wuchsen längst Büsche und kleine Bäume, hier konnten sie Höhlen bauen und für ein paar Stunden Tom Sawyer und Huckleberry Finn sein.
Nur wenige hundert Meter weiter bahnte sich zwischen Wiesen und Feldern die Panke ihren Weg in die Stadt. Dort fingen sie Frösche und transportierten sie im Einweckglas heim. Manni besaß ja lange Zeit einen Zoo. Auf dem breiten Küchenfensterbrett war er aufgebaut, eine Schlange gehörte dazu, zwei Feuersalamander, jede Menge Eidechsen, Frösche, weiße Mäuse und Zierfische. Rieke, die Ringelnatter, hatte immer Kohldampf. Also
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