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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Schlachtruf, und ein anderer: »Wir sind für Pieck und Grotewohl, von Bonn haben wir die Nase voll.«
    Es wurden Stoffpuppen mitgeführt, die Adenauer im Vogelbauer zeigten, gegen die Hungerregierung in Bonn wurde protestiert und gegen die imperialistischen Aggressoren, die mit unvorstellbarer Brutalität gegen das friedliebende Volk in Korea vorgingen. Manche FDJler liefen oder fuhren auf Wunsch ihrer Führung auch in den Westen hinüber, um Flugblätter zu verteilen und Plakate zu kleben; wurden sie festgenommen, protestierte die »friedliche Welt« laut.
    Wieder ein Jahr später entdeckte die Mutter in der Zeitung ein Foto: marschierende FDJler mit Kleinkalibergewehren. Darunter auch Mädchen. »Da haben wir’s!«, schimpfte sie. »Erst heißt es: Wer je wieder eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfaulen, dann: Der Friede muss bewaffnet sein.«
    Bel Ami, an diesem Nachmittag einziger Stammgast, zog den Kopf ein. »Biste stille, Lisa! Oder willste, dass dein Sohn in der Schule erzählt, wie du hier das Volk verhetzt?«
    Manni, der mit am Stammtisch saß, war empört: Niemals hätte er in der Schule erzählt, was in der Gaststube geredet wurde. Er war doch nicht blöd, wusste beide Welten sorgfältig voneinander zu trennen. In der Schule, so hatte die Mutter mal zu ihm gesagt, erfährst du, wie alles zu sein hat, im wirklichen Leben, wie alles ist.
    Eine Einstellung, die Manni ziemlich klug fand. Wenn nur die Schule genauso viel Spaß gemacht hätte wie seine Beobachtungen der Wirklichkeit! In der Schule hatte er ja nur Ärger. Das fing schon mit der Einschulungsfeier an. Da hatte er bereits nach einer halben Stunde wieder gehen wollen, weil er glaubte, bei einer so langweiligen Veranstaltung nicht dabeibleiben zu müssen. Mit dem ersten Probefeueralarm ging’s weiter. Den nahm er als Einziger ernst, weshalb er in Panik davonstürzte und sich dabei die Gemüsesuppe, die er gerade aus seinem Kochgeschirr gelöffelt hatte, über die Hose kippte; natürlich sehr zur Freude aller anderen, so viel klügeren Kinder. Wozu aber veranstalteten die Lehrer ein solches Theater, wenn es nicht ernst war? Dann, noch in der ersten Klasse, verdarb er es sich mit der Religionslehrerin, dem sehr frommen, sehr hageren Fräulein Knauer, die zu allen Jahreszeiten einen Tropfen an der langen, spitzen, rötlichen Nase hängen hatte. Beugte sie sich über einen Schüler, tropfte es dem sich ängstlich Wegduckenden aufs Heft, auf den Kopf oder ins Gesicht. Keiner in der Klasse wagte, dagegen zu protestieren. Er aber rief einmal voller Entsetzen: »Sie haben mir ja schon wieder ins Heft getropft.«
    »Was habe ich getan, du Satanskopp?«
    »Sie haben getropft.«
    Die Klasse bog sich vor Lachen, Fräulein Knauer aber leugnete ihr Nasenleiden und vergaß ihm die Beschwerde nie.
    In der vierten Klasse hing eines Tages ein Spruch im Klassenzimmer: Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Während die anderen über den Satz nur lästerten – »Kalle ist groß, Kalle ist mächtig, wenn er auf ’n Stuhl steigt, ein Meter sechzig« –, fragte Manni Frau Zeisig, zu jener Zeit ihre Klassenlehrerin, woher man denn wisse, dass diese Lehre wahr sei. Er verlangte nach einem Beweis und wurde gerügt: Wenn er erst älter sei, werde er diesen Satz schon verstehen. Der Spruch sei nämlich für die größeren Kinder bestimmt, die auch manchmal in dieser Klasse unterrichtet würden und sich die Wahrheit dieser Worte längst zu Herzen genommen hätten.
    Auf so leichte Weise aber war Manni nicht zufrieden zu stellen, und so quälte er die Zeisig mit weiteren Fragen, bis er begriffen hatte, dass sie diesen Spruch selbst nicht verstand. Erst danach gab er sich zufrieden. Die kleine, pummelige Lehrerin aber fühlte sich von ihm bloßgestellt und hatte ihn fortan ebenfalls auf dem Kieker. Und da er öfter etwas vergessen oder die Hausarbeiten nicht gemacht hatte, hagelte es Tadel und schlechte Noten und einmal schimpfte sie ihn »kleinbürgerliches Individuum«.
    Da wollte er natürlich herausfinden, was das denn für einer war: ein Kleinbürger. Und Indidum? Oder Invidurum? Was sollte das denn nun wieder sein? Wie günstig, dass an diesem Nachmittag Robert zu Besuch kam, Robert, der längst seine Renate geheiratet hatte und von ihnen fortgezogen war.
    Robert ließ sich die ganze Geschichte erzählen und erklärte ihm dann, dass die Zeisig damit wohl ausdrücken wollte, dass er, Manfred Lenz, aus einer rückständigen Familie kam.

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