Krokodil im Nacken
Osten und wusste, dass vieles, was im Westen über den Osten gesagt wurde, furchtbar übertrieben war oder gar nicht stimmte und umgekehrt genauso. War für beide Seiten denn immer nur das die Wahrheit, was der anderen Seite schadete?
Am S-Bahnhof Gesundbrunnen wurde oft die Tarantel verteilt, eine böswillige, westliche Spottzeitschrift, im Osten antworteten die Karikaturisten des Eulenspiegel. Jede Seite gab der anderen Zunder. Manni sah alles, las alles, hörte alles, nahm alles in sich auf und machte sich über alles seine Gedanken. Seinem Naturell nach war er für Versöhnung; alles, was irgendwie einvernehmlich geschah, fand seinen Beifall. Es hatte ja nicht nur die Mutter Angst vor einem neuen Krieg Ost gegen West, auch er fürchtete, dass eines Tages wieder geschossen und gebombt werden könnte. Diese Furcht war immer dann besonders groß, wenn Robert Geburtstag hatte. Dann erzählte die Mutter jedes Mal, dass genau an dem Tag, an dem Robert dreizehn wurde, in einer fernen Stadt in Japan mit einer einzigen Bombe über zweihunderttausend Menschen getötet worden waren. Die Bombe hätten die Amerikaner abgeworfen, um Japan zum Frieden zu zwingen. Aber durfte man denn Menschen auf so grausame Weise zum Frieden zwingen? Was, wenn eine solche Bombe auf Berlin abgeworfen worden wäre?, fragte sich die Mutter. Dann hätte es mindestens eine Million Tote gegeben, und ganz sicher hätten die Amerikaner das auch getan, wenn der Krieg noch lange fortgedauert hätte.
Die Mutter wollte nicht, dass auch Robert eines Tages in einen Krieg ziehen musste, in dem er fallen konnte, wie einst ihr Vater und ihr zweiter Mann in Kriegen gefallen waren. Schnurrbart-Meisel jedoch sagte, wenn ein neuer Krieg kommen sollte, würde er kommen. Da könne man gar nichts gegen tun, weil es zu allen Zeiten Kriege gegeben habe und es auch weiterhin welche geben werde. So sei nun mal der Lauf der Welt. Und na klar würden die neu erfundenen Waffen immer schrecklicher; wozu sonst sollte man neue erfinden?
Das war der Mutter kein Trost und half auch dem großen Bruder nicht, den der Gedanke, Soldat werden zu müssen, ebenfalls zutiefst erschreckte. Er aber, Manni, spann die Sorgen der Mutter fort und hörte genau zu und sah genau hin, wenn irgendwo neuer Streit in der Luft lag. Und bei einem, von dem die Mutter sagte, dass er ein Kriegskind war, musste das vielleicht auch so sein.
Der Tag, an dem die DDR gegründet wurde. Manni ging gerade die fünfte Woche zur Schule, allen Kindern wurde ein Bonbon in die Hand gedrückt und gesagt, sie dürften sich freuen, ein neuer Staat sei geboren, ein Staat des Friedens und der Völkerfreundschaft; der Name dieses Staates: Deutsche Demokratische Republik . Ein langer Name, wie Manni fand; ein verlogener Name, wie es am Stammtisch hieß.
Es gab die ersten Wahlen und tags darauf viel Gelächter: 99,7 Prozent Ja-Stimmen für die von der SED beherrschte Einheitsliste der Nationalen Front? So frech hätte nicht mal der Hitler beschissen, sagte der Fleischermeister Möckel.
Ein Jahr später wurde noch lauter gelacht: Da gab es nicht genügend Kartoffeln, und die SED-Propaganda behauptete, der amerikanische Klassenfeind habe aus Flugzeugen Kartoffelkäfer auf die ostdeutschen Kartoffelfelder abgeworfen, um die junge DDR zu schädigen. Onkel Ziesche: »Schade, dass es keine Käfer gibt, die Lügen fressen.«
Ein weiteres Jahr später wurde es bunt in der zerstörten Stadt, da fanden im Ostsektor die Weltfestspiele der Jugend und Studenten statt. Alle Straßen waren mit Papiergrün und Girlanden, Fähnchen und Transparenten geschmückt wie sonst nur zum 1. Mai, überall gab es Festplätze, wehten Fahnen im Wind, waren Blumenkübel aufgestellt. Riesige Porträts von Marx, Engels, Lenin, Stalin, Mao Tse-Tung, Ulbricht, Pieck, Grotewohl und anderen »Heiligen« wurden durch die Straßen getragen, auf dem Nordmarkplatz wurden Volkstänze aufgeführt und im Hinterzimmer vom Ersten Ehestandsschoppen lagen Strohsäcke für ausländische Studenten bereit. Es gab Bockwürste und saure Gurken und viel Gesang. »Bau auf, bau auf, Freie Deutsche Jugend, bau auf!« wurde gesungen, auch dass »im August in Berlin die Rosen blüh’n« und immer wieder »Go Ami, Ami, go home, spalte für den Frieden dein Atom«. In nicht so friedlichen Liedern hieß es, dem Feind sollten die Klauen gebrochen werden, und wer sich dem Neuen entgegenstelle, gehöre zerschmettert. »Adenauer in den Vogelbauer« lautete ein oft skandierter
Weitere Kostenlose Bücher