Krokodil im Nacken
westlichen Kinos liefen. Er war ja schon früh zum Kinogänger geworden. Die Mutter hängte Woche für Woche die Kinoplakate der Helmholtz-Lichtspiele ins Fenster, dafür entlohnte sie der Besitzer dieses langen, schmalen Handtuchs am Helmholtzplatz mit Freikarten. Die Mutter und Schnurrbart-Meisel jedoch hatten gar keine Zeit, ins Kino zu gehen, also musste Manni den Lohn für die Reklame absitzen und wurde so zum Stammkunden. Er war aber ein sehr anspruchsloser Freikartenabsitzer, denn nie setzte er sich auf einen Klappsitz. Auch wenn das Kino nur zur Hälfte gefüllt war, bevorzugte er es, sich auf die dicke Holzverkleidung der Zentralheizung zu legen. Und da lag er dann drei- bis viermal die Woche; den übrigen Kinobesuchern hätte etwas gefehlt, hätten sie ihn nicht da liegen gesehen.
Auf dieser im Winter so angenehm warmen »Ofenbank« sah er all die politisch unverfänglichen Lustspielfilme der Nazizeit, die auch nach dem Krieg noch abgedudelt wurden, begutachtete er die ersten Defa -Filme und Unmengen von russischen Propagandastreifen. Darunter viele Kriegsfilme, die oft sehr gemischte Gefühle in ihm wachriefen. Zwar litt er mit den positiven Leinwandhelden, die fiesen Gegner jedoch, die ein ums andere Mal besiegt oder in die Flucht geschlagen werden mussten, waren stets irgendwelche finster aussehenden Turbanträger oder deutsche Soldaten. Solche wie sein Vater also. Er schämte sich für die bornierten, meist glatzköpfigen und monokelbewehrten deutschen Offiziere in diesen Filmen, erschrak über die dumpfen Gesichter der deutschen Soldaten und war jedes Mal froh, wenn – um das »andere Deutschland« zu zeigen – ein nachdenklicher deutscher Überläufer in dem Film vorkam.
In den westlichen Kinos traf er die alten Ufa -Stars wieder; älter geworden, jedoch in ähnlichen Rollen. Bald aber interessierten sie ihn nicht mehr. Im Westen gab es ja auch jede Menge amerikanische, französische, italienische und englische Filme. Egal ob Wildwestromantik, Krimis, neorealistische Kunstwerke oder Lustspiele, Manni ließ sich vorflimmern, was angeboten wurde. Mal saß er in irgendeiner Flohkiste auf dem Notsitz und sah nur Eierköpfe, mal fläzte er sich in einen der samtbezogenen Kurfürstendamm-Kinositze. Westkino war kein teures Vergnügen. Filme, die als »besonders wertvoll« galten, wurden Ostlern nach einem Umtauschkurs von 1:1 – eine Ostmark gleich eine Westmark – angeboten, und auch für andere Filme zahlten Ostler nur den halben Eintrittspreis und Kinder auch davon nur die Hälfte. So kostete Manni ein Kinobesuch nie mehr als eine Ostmark oder fünfundzwanzig Westpfennige. Von der Mutter immer wieder mal mit einer Westmark beschenkt, besuchte er an manchen Tagen gleich zwei oder drei Vorstellungen.
Hatte ein Film ihn berührt, ganz egal ob östlicher oder westlicher Prägung, sprang er durch den Tag, als hätte er soeben die Welt neu entdeckt; hatte er eine Niete gezogen, rückte er sich den Streifen zurecht, indem er sich ausmalte, wie der Film hätte sein müssen. Dieses Zurechtrücken von unbefriedigenden Filmen wurde eine Leidenschaft von ihm. Zwar machte es viel Spaß, die Leute von der Leinwand, egal ob fesche sowjetische Offiziere, Ufa -Bonvivants, aufrechte Arbeiterhelden oder schnell ziehende Cowboys, gegen Mutters ewig nur trinkende, schweinigelnde oder politisierende Stammtischler auszuspielen; wahre Menschen aber, das begriff er früh, waren diese Leinwandhelden nicht. Wahre Menschen tauchten nur in sehr wenigen Filmen auf; ansonsten saßen sie in Mutters Kneipe, liefen in den Straßen herum oder unterrichteten Kinder. Wenn er Filme drehen würde, das stand fest, wären das nur solche, in denen die Wirklichkeit gezeigt wurde. So wie er es aus manchen italienischen Filmen kannte. Es musste doch viel spannender sein, die Wirklichkeit zu zeigen, als immer nur irgendwelche lustigen, schönen oder abenteuerlichen Geschichten zu erfinden, die sowieso stets und ständig gut ausgingen.
Die Wirklichkeit und die Wahrheit, die hinter allem steckte, waren es, die ihn, je älter er wurde, immer neugieriger machten: War denn, was am Stammtisch geredet wurde, immer die Wahrheit? Sagten die Lehrer und Lehrerinnen in der Schule immer die Wahrheit? Stand in der Zeitung ständig nur die Wahrheit? Wo lag im Streit Ost gegen West und West gegen Ost die Wahrheit? In den Wochenschauen vor den Hauptfilmen wurde stets viel über die jeweils andere Seite berichtet, aber war das immer die Wahrheit? Er wohnte im
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