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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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aufgewachsen?
    Er ahnte mal wieder, dass alle, die so etwas sagten, Recht hatten. Als Halbwüchsiger im Ersten Ehestandsschoppen , als Halbwüchsiger die Taschen voller Ost- und Westgeld, als Halbwüchsiger im Clinch mit Onkel Willi, wie hätte das enden sollen? Sie hatten Recht, alle hatten sie Recht – und doch hätten sie es nicht sagen dürfen; nicht zu ihm, nicht in dieser Zeit.
    Bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit zog er wieder durch die Straßen. Eigentlich fühlte er sich nur noch dort zu Hause.
    Den Prozess um den Ersten Ehestandsschoppen gewann Onkel Willi. Der Staat hatte kein Interesse daran, dass junge Leute sich selbstständig machten. Einzige Auflage: Der Stiefvater musste seinen Stiefsöhnen monatlich je einhundert Mark Auslösung zahlen. Mannis Geld kam auf ein Konto, wurden größere Anschaffungen für ihn nötig, wurden sie davon getätigt.
    Blieb die Frage, wie es mit ihm weitergehen sollte. Bei Robert und Reni konnte er nicht bleiben, das wusste er selbst. So war er einverstanden, als sie ihm nach einem Jahr vorschlugen, in ein Kinderheim zu gehen. Wenn ihm etwas helfen könne, dann sei das die Gemeinschaftserziehung,
    Er nickte nur zu allem; irgendwo musste er ja hin.

11. Götter und Eichhörnchen
    E s war ein kalter, grauer, schneegrießliger Januarvormittag, an dem Manne in das Kinderheim Königsheide einzog. Ihn fror, er hatte Angst vor dem, was ihn erwartete. Hinter dem schmiedeeisernen Eingangstor mit den eingearbeiteten beiden Eichhörnchen, dem Wappentier des Heimes, kamen der Schwägerin und ihm mehrere kleine Kinder entgegen. Sie trugen hellgraue oder hellbraune, samtartige Velveton-Anzüge, die über den Knöcheln zugeknöpft wurden, und einige dazu noch ein Emblem auf der linken Brustseite; ebenfalls ein Eichhörnchen, knallrot auf weißem Grund. Reni meinte, dass die aber lustig aussähen; Manne verzog keine Miene. An diesem Tag konnte ihn nichts erheitern.
    Auf dem Jugendamt hatte man ihm gesagt, dass bis zu sechshundert Kinder in dem Heim lebten, vom Säugling bis zum Fast-Erwachsenen. Er hatte sich das nicht vorstellen können. Jetzt konnte er es sich vorstellen. Das weitläufige Gelände hinter dem Tor umfasste ja gleich mehrere, offensichtlich erst wenige Jahre zuvor erbaute, sehr helle und mit reliefartigen Motiven aus dem sozialistischen Kinderleben geschmückte Häuser; ein breiter Hauptweg teilte die in einen Kiefernwald hineingebaute Anlage, ein hoher Maschendrahtzaun umschloss sie.
    Er kam dann in die Große-Jungen-Gruppe von Haus 3. Die stellvertretende Hausleiterin Uschi Kalinowski, eine noch junge Frau mit meerblauen Augen und roten Apfelbäckchen, nahm ihn in Empfang und Reni verabschiedete sich. »Kommst uns bald mal besuchen, nicht wahr?«
    Die Jungen, denen er vorgestellt wurde, hielten ihn auf den ersten Blick für einen neuen Erzieher, so erwachsen sah er aus in dem Fischgrätenanzug, den er auf Renis Anraten hin angezogen hatte. Alle waren sie in seinem Alter, alle wussten sie, wie einem Neuen zumute war. Sie halfen ihm, sich in seinem schmalen, einem Militärspind ähnelnden Schrank einzurichten, und vom ersten Tag an war er für sie »der Manne«. Er war erleichtert, nicht unter lauter Ganoven gefallen zu sein, und erzählte bereitwillig, woher, wie alt und weswegen.
    Kriegswaisen lebten in dem Heim, Flüchtlingskinder aus dem deutschen Osten, die auf den Trecks ihre Eltern verloren hatten, Kinder von Eltern, denen man das Erziehungsrecht abgesprochen hatte, Kinder von Eltern, die sich unter Zurücklassung von jeglichem Ballast in den Westen abgesetzt hatten. Dazu Kinder von in- und ausländischen Diplomaten, die keine Zeit hatten, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern, und Kinder von Kommunisten, die im internationalen Klassenkampf standen. Spätwaisen wie Manfred Lenz oder Kinder, mit denen ihre Eltern nicht mehr fertig geworden waren, waren die Ausnahme.
    »Das größte Kinderheim Europas« wurde die Königsheide genannt, eine Republik der Kinder sollte sie sein. Sie war aber keine Republik, sie war ein Gottesstaat. Der Obergott hieß Walter Reiser und hatte es gern, wenn man ihn Papa Reiser rief. Eine sehr sympathische, beeindruckende Figur. Etwa fünfzig, groß, schlank, volles, graues, locker zurückgekämmtes Haar, sehr ausgeprägte, regelmäßige Gesichtszüge, angenehm sonore Stimme. Er war Kommunist von Jugend an, der Papa Reiser, und ein erfahrener Klassenkämpfer. Er trug nur hellgraue Anzüge und war nie ohne Krawatte unterwegs. Sahen die

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