Krokodil im Nacken
Jungen und Mädchen ihn von weitem, gingen sie aufrechter; wer vor ihm stand, nahm unbewusst Haltung an. Selbst die älteren Jugendlichen, die schon im Berufsleben standen, jeden Morgen das Heim verließen und sich so schnell von nichts und niemandem etwas sagen ließen, gaben sich bei ihm nicht mehr ganz so lässig. Viele große und kleine Mädchen schwärmten ihn an, kleine Jungen krochen ihm gern auf den Schoß.
Heimleiter Reiser wollte Förster sein, zarte, noch formbare Pflänzchen zu großen, festen, klassenbewussten Bäumen heranziehen. Eine Aufgabe, die ihm nach zwölf Jahren Hitler als dringend notwendig erschien, obwohl doch jeder wusste, dass er eigentlich zu Höherem berufen war. War aber die Jugend, so seine oft wiederholte Mahnung, nicht die einzige Hoffnung auf Zukunft? Alles hing davon ab, dass sie die Stafette übernahm. Dafür kämpfte er, dafür opferte er sich. Ein großer Mann, der nicht ernten, sondern säen wollte.
Ganz so groß war er dann aber doch nicht; Manne bemerkte es bald. Einige Sechzehn-, Siebzehnjährige hatten keinen übertriebenen Respekt vor Papa Reiser, machten, was sie wollten, und kamen, stellte er sie zur Rede, sogar ihm frech. Dann zürnte der mächtige Mann, ihm fielen die langen, grauen Haare in die Stirn, die Augen flackerten, seine Stimme überschlug sich, er raste vor Empörung und packte den Uneinsichtigen auch schon mal an den Schultern, um ihn kräftig durchzuschütteln. Papa Reiser war ein Erwachsener wie alle anderen auch.
Der Tagesablauf war militärisch geregelt. Sechs Uhr fünfzehn Wecken, der Größe nach antreten und Meldung erstatten. Gleich darauf Frühsport, Gymnastik oder Geländelauf, ganz egal, ob es draußen regnete, hagelte oder schneite. Nach dem Frühsport Waschen, Schrankbau, Bettenbau. War alles erledigt, wurde erneut im Flur angetreten und im Gänsemarsch zum Frühstück marschiert. Das musste schweigend geschehen und, schaffte eine Gruppe das nicht, wurde geübt: Schweigemarsch vom Tor zur Schule und zurück. Immer hin und her, bis schon vor Frust kein Wort mehr fiel.
Anfangs lachte Manne über diese Spielchen; nachdem er ein paar Mal der ganzen Gruppe zum Marschieren verholfen hatte, lachte er nicht mehr.
Hatten alle ihre Suppe und die Marmeladenbrote intus, ging’s in die Gruppe zurück. Die Dienste mussten erledigt werden: Zimmerdienst, Waschraumdienst, Mülldienst, Flurdienst. Die Hauptdienstzeit war vor dem Schlafengehen, da wurde gefegt, das Linoleum eingewachst und, schon im langen, weißen Nachthemd, mit dem schweren Bohnerbesen durch alle Räume geflitzt; es wurden die Waschbecken, der Duschraum, die Badewanne und die ungeliebten Klos mit Ata gescheuert und der Müll runtergebracht. Morgens waren nur kleinere Auffrischungen nötig; man war das Vorzeigeheim, ausländische Delegationen sollten den richtigen Eindruck von sozialistischer Ordnung und Sauberkeit bekommen.
War alles getan und von den Erziehern abgesegnet, ging’s zur Schule. Dort standen schon die Pioniere vom Dienst. Was nicht in die Schule gehörte, durfte nicht mitgenommen werden. Für die Kleinen hieß das, kein Spielzeug im Ranzen mit sich herumzuschleppen, für die Großen, sich nicht mit westlicher Schundliteratur erwischen zu lassen. Es missfiel Papa Reiser und seinen Neben- und Untergöttern, dass es auch hier Jungen und Mädchen gab, die, zu Besuch bei der Westtante, sich dort ungeniert die Produkte des Klassenfeindes aufschwatzen ließen. Wurde ein solcher Fall entdeckt, wurde der Helfershelfer des Klassenfeindes gebrandmarkt. Noch krimineller allerdings war es, wenn dieser Helfershelfer den Comic oder Schundroman im Heim zugesteckt bekommen hatte. Dann wurde gnadenlos aufgedeckt und der Weg, den das Corpus Delicti genommen hatte, von Sünder zu Sünder bis zur Westtante zurückverfolgt. Als Buße wurden auferlegt: Ausgangsverbot, Urlaubsverbot oder – das Grausamste – die Bestrafung der gesamten Gruppe; zwanzig Jungen oder Mädchen, die keinen Ausgang oder keinen Urlaub erhielten, nicht mit ins Kino und auch an anderen Vergnügungen nicht teilnehmen durften.
V om Ich zum Wir lautete eine der Parolen, die im Schulgebäude ausgehängt waren. Und immer wieder hieß es im Unterricht: »Ihr müsst mehr lernen als die Schüler im Westen, fleißiger sein. Nur so können wir im Klassenkampf bestehen. Warum ist uns die Bourgeoisie denn zurzeit auf vielen Gebieten noch überlegen? Weil die Bürgersöhnchen und Bürgertöchter eine bessere Bildung erfahren haben als
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