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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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Lenz, sich an dieses Loch gewöhnt, es sich darin »gemütlich« gemacht und eine Inschrift in die Wand geritzt …
    Vom Hof her kam ein Geräusch. Es klang, als hätte jemand eine Kreissäge in Gang gesetzt. Also waren doch Gefangene hier? Vielleicht nur noch wenige, die den Gefängnisbetrieb aufrechterhielten, damit die Stasi hier ihre Besuchstermine abhalten konnte?
    Die Zelle neben ihm wurde geöffnet, und gleich war Lenz wieder an der Tür und hörte, wie auf dem eisernen Laufsteg laut widerhallende Schritte sich entfernten. Also hatten sie den ersten Fisch geholt. Als danach nichts weiter zu hören war, ging er zur Pritsche, riss einen Splitter aus dem Holz und begann unterhalb des Gitterfensters vier Buchstaben in die hier schon sehr abgeblätterte Farbe zu ritzen: S + M + H + M, 10.11.72 . Das Datum von übermorgen; Silkes neunter Geburtstag. Ein Tag, vor dem er sich fürchtete; ein Tag, an dem die Familie Lenz beisammen sein müsste. Es war richtig, dass er sie alle vier hier verewigte; sie »saßen« ja auch zu viert.
    Weitere Zellentüren wurden geöffnet, Gefangene fortgeführt und zurückgebracht. Lenz stand nur noch da und lauschte. Wann würden sie ihn endlich holen? Inzwischen musste ja schon über eine Stunde vergangen sein.
    Das kleine Gitterfenster hoch unter der Zellendecke verriet, dass es draußen langsam dunkel wurde. Seine Unruhe wuchs, er begann wieder auf und ab zu laufen. Als er schon glaubte, die Warterei nicht länger aushalten zu können, wurde es laut in der Halle. In rascher Abfolge wurde eine Tür nach der anderen geöffnet – und nicht wieder geschlossen.
    Was sollte das denn bedeuten? Das klang ja, als würden sie bereits wieder zurückgebracht.
    Auch Lenz’ Zelle wurde geöffnet. »Raustreten!«
    Er blieb mitten im Raum stehen. »Aber ich bin ja noch gar nicht geholt worden. Es sollte doch Besuch für mich da sein.«
    »Nicht mein Problem. Raustreten!«
    Er folgte dem Stasi-Mann, es ging in den Hof und in den Fischlieferwagen. Sie steckten ihn in eines ihrer Gefangenen-Schließfächer, der Wagen rumpelte durch die Straßen, er aber war noch immer wie betäubt. Was war passiert? Eine reine Schikanemaßnahme? Eine besondere Variante aus ihrer Kiste mit den Psychotricks? Keine Bücher mehr, keine Zeitung, Besuch ohne Besucher – sollte ihn das mürbe machen? Doch wofür? Er hatte doch längst alles gestanden. Tippten sie noch immer auf Spionage? Wollten sie ihn für neue Vernehmungen weich kochen? Oder hofften sie weiter, ihn als Spitzel gewinnen zu können? Aber wie sollte das funktionieren, mit solchen Methoden konnte man doch niemanden anwerben?
    »Ich will meinen Vernehmer sprechen«, verlangte er erneut, als der Marsmann ihn in die 102 zurückgeführt hatte.
    »Woll’n Se ’ne Aussage machen?«
    »Ja.«
    Der Marsmann nickte. »Melde ich weiter.«
    Als er gegangen war, blickte Lenz sich in seiner Zelle um – und schämte sich: Wie war er froh, zurück zu sein in seinem ordentlichen, sauberen, trockenen Neubau-Verwahrraum! Nur: Warum gab es hier keine Inschriften an den Wänden? War der Respekt so groß, die Kontrolle so gut?
    Der Leutnant ließ Lenz warten. Ein Teil des bösen Spiels, das man mit ihm trieb? Siehst du, wir brauchen dich nicht, bist ein ganz und gar unwichtiges Persönchen. Aber was sollte das Ganze für einen Sinn haben? Er hatte doch ausgesagt. Steckte da tatsächlich die Spionagegeschichte dahinter; Manfred Lenz, der amerikanisch-britisch-französisch-westdeutsche Agent?
    Es war zum Lachen, aber auch zum Fürchten: Vielleicht war er ja wirklich ein Spion. Er wusste eine ganze Menge, kannte viele private Schwächen der führenden Mitarbeiter im Außenhandel; wäre er böswillig, hätte er dem »Sozialismus« schaden können. Und weshalb hätte er das aus Sicht der Stasi denn nicht tun sollen? Wer nicht für sie ist, ist gegen sie, und weshalb sollte, wer gegen sie ist, denn Charakter haben?
    An guten Tagen brachte Lenz es fertig, trotz aller Ängste so etwas wie Stolz zu entwickeln. Wer in einer zerbrochenen Welt heil bleibt, ist ein Dummkopf oder ein Lump; das hatte Heinrich Heine gesagt. Dass Hannah und er jetzt hier saßen, war das nicht ein Zeichen dafür, dass sie weder das eine noch das andere waren?
    An schlechten Tagen nahm ihm die Furcht jeden Schlaf. Zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre hinter Gittern? Das würde für Hannah und ihn so etwas wie einen frühen Tod bedeuten und für die Kinder eine geraubte Jugend. Wie in der ersten Zeit seiner Haft

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