Krokodil im Nacken
Gefangenentransporte stattfanden? Vielleicht, weil es in der DDR gar keine politischen Gefangenen gab?
Den Untersuchungshäftlingen war wieder Rede-, Sing- und Pfeifverbot erteilt worden, und natürlich hatte man sie in so großen Abständen einsteigen lassen, dass keiner der frischen Fische einen seiner Mitfische zu Gesicht bekam. Lenz hatte auch nicht damit gerechnet, rechnete mit gar nichts, war noch immer verwirrt, nahm den Lärm des Straßenverkehrs, der zu ihm hereindrang, nur undeutlich wahr: Wer außer Robert könnte dieser Besuch sein? Und wenn es der Bruder war, hieß das nicht, dass er endlich Näheres über die Kinder erfuhr? Ein Gedanke, der ihn beglückte und erschreckte: Wenn er nun Schlimmes zu hören bekam, wie sollte er damit fertig werden?
Bereits nach kurzer Zeit hielt der Wagen und als Dritter durfte Lenz seinen Verschlag verlassen. Er wurde über den Hof eines sehr alten, düster wirkenden Gefängnisbaus geführt und danach durch mehrere nur schwach beleuchtete Gänge mit kahlen, kalten, ewig nicht mehr gestrichenen grünlichen Wänden. Schwere Eisentüren fielen hinter ihm zu, ein drei Stockwerke hohes Zellenhaus empfing ihn. Zu den einzelnen Zellentrakts führten steile Eisenstiegen, vor den Zellentüren zogen sich schmale, ebenfalls eiserne Laufstege entlang, die in der Luft zu hängen schienen und an denen sich eine Art Reling befand. Alles sehr düster wirkend, sehr einschüchternd; ein Knast, wie Lenz ihn aus Hans Falladas Wer einmal aus dem Blechnapf frisst kannte. Doch schien hier nichts mehr in Betrieb zu sein, die meisten Zellentüren standen offen und auch Gefangene waren keine zu sehen oder zu hören.
Lenz wurde in eine der Zellen im ersten Stock geführt und blieb gleich neben der Tür stehen. Es mussten mindestens zwei Barkas -Wagen unterwegs gewesen sein, so oft klappten die Zellentüren, rasselte der Schlüssel in diesem äußerst hellhörigen Zellenhaus. Erst als nichts mehr zu erlauschen war, blickte er sich um. Ein Anblick, der ihm den Atem nahm: Die Wände, ehemals blassgrün gestrichen, waren schmutzverschmiert und über und über inschriftenverziert, das Holz der Pritsche, auf der keine Matratze lag, war fast schwarz, so sehr war es im Lauf der Jahre nachgedunkelt. Das kleine, vergitterte Fenster hatte man so hoch unter der Decke angebracht, dass auf den Hocker steigen musste, wer es öffnen wollte; als er den an der Wand befestigten Klapptisch aufklappen wollte, quietschte er so laut in den Scharnieren, als wollte er um Hilfe schreien. Die Klospülung funktionierte nicht, das Handwaschbecken war braun vom Wasserstein, die Wand darunter und hinter dem Klobecken von weißschwarzen Schimmelflecken überzogen. Neben der Zellentür gab es eine an einen Klingelzug erinnernde »Fahne«, die der Häftling werfen konnte, wenn er aus irgendeinem Grund mit dem Schließer sprechen wollte; eine Möglichkeit, die den Gefangenen im modernen Stasibau nicht eingeräumt wurde.
Es war aber nicht allein die Schäbigkeit dieser Zelle, die Lenz so entsetzte. Ihn erschütterte vor allem die feuchte Kälte, die von ihr ausging, und der Geruch, den sie verströmte. Es stank, als würden die Wände Angst ausschwitzen – all die Angst, die dieser alte Knastbau in den vielen Jahren seines Bestehens in sich aufgenommen hatte. Generationen von Häftlingen hatten hier ihre Tage zugebracht, das Klo benutzt, ihre Träume geträumt; immer wieder neue Gefangene waren in diesem schmalen, düsteren Raum auf und ab geschritten und hatten zu dem kleinen Fenster hochgeschaut … Jürgen B., 17.10.61 stand da über dem Klapptisch. Was hatte er getan, dieser Jürgen B., nur zwei Monate nach dem Mauerbau? Hatte er einen Fluchtversuch unternommen? Gleich darüber: Hannes A., 5.3.68 . Das war noch vor dem Ende des Prager Frühlings … Daneben Rudolf W., 7.6.64 . Und immer so weiter: Daten über Daten und dazwischen Sprüche, Flüche und gezeichnete Masturbationshilfen. Jedoch kein einziges Datum aus der Zeit vor 1961. Also war die Zelle im Jahr des Mauerbaus das letzte Mal gestrichen worden? Wenn sie aber vor elf Jahren nicht gestrichen worden wäre, welche Inschriften hätte er dann noch entdecken können? Wer saß hier unterm Kaiser, wer in den Zwanzigern, wer unter Hitler, wer in den ersten Nachkriegsjahren, wer in den Fünfzigern? Wer, weshalb und wie lange?
Ein entsetzlicher Gedanke, hier bleiben zu müssen, vielleicht sogar über Monate oder Jahre hinweg! Und doch, irgendwann hätte auch er, Manfred
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