Krokodil im Nacken
sowjetische, ostdeutsche, polnische, tschechische, ungarische –, die ihm in den Jahren zuvor entgangen waren, weil sie in den Zeitungen und Zeitschriften eher stiefmütterlich behandelt wurden; leise Schreiber, die auf vorsichtige Weise ihr Leiden an der Gegenwart zum Thema gemacht hatten. Fand er einen Satz, der ihn ermutigte, unterstrich er ihn. Mit dem Daumennagel.
Der helle, klare, freundliche Altweibersommer ging vorüber, ein hässlicher Herbst folgte. Doch was ging Manfred Lenz das Wetter an? In seinem Verwahrraum Nr. 102 erlebte er seine eigenen Hochs und Tiefs. Und an einem stürmischen Regenabend, als unentwegt der Wind durch die geschlossene Lüftungsklappe pfiff, ging für ihn sogar die helle Sonne auf – denn da wurde ihm zu seinen Büchern, er konnte es kaum fassen, auch noch eine Tageszeitung in die Zelle gereicht. Und es war nicht das Neue Deutschland , das kaum erträgliche SED-Zentralorgan, über das er sich natürlich auch gefreut hätte, sondern die bei aller Linientreue nicht ganz so hölzern gestaltete Berliner Zeitung . Das zerknitterte Blatt musste zuvor schon in vielen anderen Zellen gewesen sein und sollte noch weitergereicht werden, er aber ließ sich nicht drängen, sooft auch der Marsmann durch die Klappe linste: »Sind Se immer noch nich fertig?«
Drei Monate war es her, seit er das letzte Mal eine Zeitung in den Händen gehalten hatte; Lenz las jeden Satz, jede Zeile bis hin zum Impressum. Ein anderer Schließer hätte das kaum mitgemacht, der Marsmann jedoch schien Verständnis zu haben. Als er das Blatt endlich zurückerhielt, schüttelte er nur den Kopf. Lenz aber saß auf seinem Hocker, den Rücken trotz aller Verbote an die Wand gelehnt, und starrte zur Neonröhre hoch: Theaterpremieren, neue Filme, neu eingeweihte Bauten, übererfüllte Pläne, die Politik der Bonner Ultras, die Freundschaft zu den Brudervölkern der Sowjetunion – wie fern war sie ihm plötzlich, die Welt da draußen. Brauchte er ihn denn wirklich, all diesen Lärm, der da gemacht wurde? War es nicht möglich, als Eremit zu leben, solange man eine Bibliothek um sich hatte?
Nein! War nicht möglich. Jedenfalls nicht auf Dauer. Er brauchte Hannah, brauchte die Kinder, brauchte das Leben.
Er bekam auch am nächsten Tag die Zeitung. Und tags darauf, und von nun an fast immer, und auch diese Vergünstigung blieb nicht die letzte Hafterleichterung. Eines Nachmittags – er hielt gerade einen naturkundlichen Reisebericht über Sibirien in der Hand, den er nicht rasch genug als solchen erkannt hatte –, mitten hinein in den späten Frühling an den Flüssen Ob, Jenissei und Lena mit all den nun endlich wieder sprießenden und blühenden Pflanzen und der neu erwachten Tierwelt, hielt der Wagen mit den schmatzenden Gummireifen zu einer eher unüblichen Zeit vor seiner Zellentür, die Klappe wurde geöffnet, und der Graue linste durch seine randlose Brille zu ihm herein: »Sie haben Einkaufserlaubnis.«
Er musste sich dieses Glück erst erklären lassen und erfuhr, dass eine Einkaufskarte für ihn angelegt worden war; was bedeutete, dass er von nun an jeden Monat im Wert von dreißig Mark Tabak, Obst und Tee- oder Kaffeemarken kaufen durfte und der Einkaufswagen wöchentlich kommen würde.
Was für eine Bescherung! Lenz erstand ein Päckchen Tabak, ein Zigarettendrehmaschinchen, Zigarettenpapier, sieben Teemarken und ein Kilo Birnen. Die Birnen wollte er sich einteilen, jeden Tag eine, wegen der Vitamine; er fraß sie innerhalb von zwei Stunden weg.
Für die Teemarken bekam er jeden Nachmittag ein Kännchen schwarzen Tee in die Zelle gereicht. Hätte er die doppelt so teuren Kaffeemarken gewählt, hätten die dreißig Mark nicht für einen Monat Tabak gelangt. Tabak, Zigarettenpapier und Tee, das war der Luxus, den er sich fortan gönnen wollte.
Vom Leutnant erfuhr Lenz, dass Robert es war, der jeden Monat die sechzig Mark für Hannah und ihn überwies. Auch richtete Knut ihm bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal Grüße von Hannah aus. Noch eine Hafterleichterung? Oder weshalb hatte er das zuvor nie getan?
Lenz ließ zurückgrüßen, obwohl er sich dabei ein wenig lächerlich vorkam – ein Leutnant der Stasi als Postillon d’Amour! Aber wenn er nun nachmittags an seinem Tischchen saß, eine gute Stunde lang an seinen zwei Tassen Tee trank und den billigen, stinkenden Knaster rauchte, den er mit seinem Maschinchen zur Zigarette gerollt hatte, hatte er oft kein gar so schlechtes Gefühl mehr: Wenn Hannah und
Weitere Kostenlose Bücher