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Krokodil im Nacken

Krokodil im Nacken

Titel: Krokodil im Nacken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klaus Kordon
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er einander grüßen durften, bedeutete das nicht, dass sie einander wieder näher gerückt waren?
    Doch das vierfache Glück war nicht von Dauer. Eines Nachmittags, Lenz war gerade von der Freistunde zurück, verweigerte der Graue ihm weitere Bücher; öffnete nur die Klappe, nahm die ausgelesenen Titel entgegen, sagte: »Sie erhalten keine Bücher mehr«, und schloss die Klappe wieder.
    Immer hatte Lenz sich zusammennehmen können, nie war er durchgedreht, wie es manchmal aus anderen Zellen zu ihm drang, in diesem Augenblick jedoch kam es über ihn: Was denn, wieder diese ewige Einzelhaft, ohne wenigstens für Stunden daraus entfliehen zu können? Das konnte er sich, nachdem er Bücher gehabt hatte, nicht mehr vorstellen. Wütend trommelte er mit den Fäusten gegen die Tür, heulend schlug er mit dem Kopf gegen die Wand. Diese Verbrecher! Sie wollten ihn fertig machen. Erst: Sieh her, wie großzügig wir sind, dann: Wir machen mit dir, was wir wollen, halten uns an keine Regel! Und er war auf sie reingefallen, hatte sich daran gewöhnt, den Tag aufzuteilen in Gymnastik, Lesen, Freistunde, Zellenmarathon, Zigaretten und Nachmittagstee. So war die Zeit schneller vergangen, so hatte er die Gedanken an Hannah, Silke und Micha besser verdrängen können. Jetzt war er wieder mit sich allein; eine endlos lange, eintönige Woche lag vor ihm. Wie sollte er die überstehen?
    Der Knurrhahn öffnete die Klappe. »Reißen Se sich zusammen, Mann!«
    Wie gern hätte Lenz ihm in die über sein unmännliches Verhalten so ehrlich empörte Fratze gespuckt. »Ich möchte meinen Vernehmer sprechen.«
    »Hab’n Se ’ne Aussage zu machen?«
    »Ja.« Weshalb denn nicht? Er würde die Aussage machen, dass er sich eine solche Behandlung nicht länger gefallen lassen wollte; würde dem Genossen Leutnant, der so überzeugt davon war, einer guten Sache zu dienen, ins Gesicht schreien, dass das hier Psychoterror war; würde ihn daran erinnern, dass er immer noch Untersuchungshäftling war und eine entsprechende Behandlung verlangte. Doch so laut diese Worte auch in ihm schrien, er wusste schon, dass er nichts dergleichen tun würde. Wozu sich auslachen lassen? Er würde den Leutnant, sollte man ihn tatsächlich zu ihm bringen, nur fragen, weshalb er keine Bücher mehr bekam; er wollte wenigstens herausbekommen, was dahinter steckte.
    Es wurde Abend und Lenz hatte auch die Zeitung nicht bekommen. Natürlich: Leseverbot war Leseverbot! Aber da war alles schon ganz kalt in ihm: Nein, auf diese Weise kriegten sie ihn nicht klein! Er konnte auch hart sein; sollten sie ihre Psycho-Foltermethoden nur weiter an ihm ausprobieren, dann machte er von nun an eben dreimal am Tag Liegestütze, lief wieder öfter Marathon, sah Kopfkino und schrieb eigene Romane.
    Tags darauf, am frühen Nachmittag, wurde er tatsächlich geholt. Das war ihm eine so prompte Reaktion, dass er ganz überrascht war. Verwirrt starrte er den Falken an, der seine Späheraugen wie jedes Mal, wenn er die Zelle betrat, erst lange durch den Raum gleiten ließ, bevor er ihn hinausbefahl. Diesmal aber fügte der Falke noch einen Satz hinzu: »Und zieh’n Se sich was über.«
    »Wozu denn? Ist beim Leutnant nicht geheizt?«
    Ein strenger Blick. »Sie hab’n Besuch.«
    Besuch? Er hatte Besuch? Also ging es nicht zum Leutnant? Hastig zog Lenz sich den grünen Armeepullover über, den er für die Freistunde bekommen hatte, und schlüpfte in die blaue Jacke der Volkspolizei. Wer konnte ihn denn besuchen kommen? Und weshalb musste er sich dafür extra etwas überziehen?
    Die letzte Frage war schnell beantwortet: Es ging außer Haus. Lenz und nach ihm andere Untersuchungshäftlinge wurden in die Gefangenenschleuse geführt, durch die sie einst hier eingeliefert worden waren – nur brannte dort diesmal kein so gleißend grelles Licht –, und sie mussten einen jener Barkas -Wagen mit den abgeteilten Verschlägen besteigen. Danach ging es durch die Stadt, einem unbekannten Ziel entgegen.
    Beim Einsteigen hatte Lenz gesehen, dass der Gefangenentransporter als Fischlieferwagen getarnt war; Frische Fische stand da in schwungvollen Buchstaben an die Karosserie gepinselt. Hatte die Stasi so viel Humor – oder war sie so ängstlich? Wer, um Himmels willen, hätte es gewagt, einen Stasi-Transport zu überfallen? Und wohin hätten die befreiten Häftlinge denn fliehen sollen, in diesem ummauerten und mit Selbstschussanlagen gespickten Land? Oder sollte ganz einfach nur niemand wissen, dass solche

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